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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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hatte sie noch nie gesehen, Insektenschatten.
     Gespreizte Flügelpaare und steife Beine, bullige Wespenkörper, dreieckige Motten, zentimeterlange Nachtfalter, in der Mitte
     so dicht liegend, dass er die einzelnen Tiere nicht mehr ausmachen konnte.
    »Bitte«, wiederholte er und trat einen Schritt zurück, so dass zwischen ihm und ihr ausreichend Luft verbleiben würde, wenn
     sie an ihm vorbeiging, »bitte«, und sie ging an ihm vorbei und lächelte ihm zu und stempelte mit ihren Turnschuhen schwarznasse
     Rhomben auf seine Dielen und sah nicht hoch.
    |30| Nach wenigen Schritten blieb sie im Flur stehen und drehte eine Viertelrunde auf der Stelle. Musterte die Stettiner Hakenterrasse,
     kupfergestochen, die schwarze Mützenreihe auf dem Garderobenbord, den verfärbten Spiegel, ihr Gesicht verschlossen.
    »Stettin«, sagte er und berührte mit der Hand den dunklen Holzrahmen, »dort bin ich geboren«, er fühlte ein kleines, besitzstolzes
     Lächeln in seinen Mundwinkeln.
    »Wir sprechen nicht über den Krieg«, sie drehte sich eine Viertelrunde weiter, ihre Stimme laut und fest.
    Er nahm den einzigen freien Bügel von der Garderobenstange, »darf ich«, und streckte ihr die Hand entgegen. Für kurze Zeit
     war sie ratlos, dann fasste Frau Potulski nach dem Reißverschluss, sie trug ein schwarzes T-Shirt unter der Jacke, er war
     enttäuscht. Ein schwarzes Herren-T-Shirt, ein wenig zu groß, ihre Brüste darunter enorm.
    »Sagen Sie Jana zu mir«, sie lächelte.
    »Aber ich kann nicht Jana sagen, und Sie sagen Sie zu mir«, protestierte der alte Mann. Frau Potulski lächelte weiter.
    »Sie können Jana und Sie sagen«, sagte sie. »Wie heißen Sie mit Vornamen?«
    »Hermann«, sagte der alte Mann, er beschloss, sie weiter Frau Potulski zu nennen, zumindest in Gedanken.
    Sie ging durch den Flur, wandte sich nach rechts, hinterließ schwarznasse Linien auf den Dielen, auf dem weißen Linoleum.
    »Das ist die Küche«, sagte er überflüssigerweise, als |31| sie mit der Hand über die weiße Wolldecke des Küchentischs fuhr, mit der Handfläche die Brotkrumen – zwei Mettwurst, zwei
     Schmelzkäse – an der Tischkante zusammenfegte und sie mit der anderen Handfläche auffing. Ihre Finger strichen über die hellbeige
     Arbeitsplatte, nahmen das Messer, mit dem er die Brote geschmiert hatte, vom Rand der Spüle und legten es behutsam in das
     Becken. Frau Potulski öffnete den Kühlschrank, sah kurz hinein, ebenso in die Hängeschränke, glitt mit den Fingern die Goldränder
     der Tellerstapel hinab, ihr Gesicht unbewegt, ihr Urteil über das Vorgefundene nicht erkennbar.
    »Und dort?«, sie zeigte auf die kleine weiß lackierte Tür neben der Spüle, »was ist dort?«
     
    In der ersten Woche in Berlin hatte er es mit Saufen versucht. Dienstag, vierzehn Uhr sechsundzwanzig war genau richtig, um
     damit anzufangen, entschied er. Er hatte eine Flasche Korn aus dem Supermarkt mitgebracht, Korn war richtig, ein Glas zu benutzen
     erschien ihm falsch. Er hatte sich an den Küchentisch gesetzt, das Radio angestellt, Brahms, den mochte er nicht, Brahms war
     auch richtig.
    Er hatte sich gelangweilt. Hatte mit dem Daumennagel Linien in die vereiste Flaschenoberfläche gezogen und mit verschieden
     großen Schlucken herumprobiert. Viele kleine schnell hintereinander gefielen ihm am besten. Warm war ihm nach einiger Zeit
     geworden, er saß in einer warmen Hülle. In einer warmen Hülle, an der unten ein Gewicht festgebunden war, und das Gewicht
     zog ihn hinab.
    |32| Er tauchte auf und wusste nicht wo, aber weiße Wolldecke war richtig, da gehörte er hin, und die Flasche war auch richtig,
     und Musik war irgendwo, und er war aufgetaucht aus Wärme und versunken gewesen, nein betrunken gewesen, und es war dunkel,
     und er war in seiner Küche, und es brannte kein Licht. Vielleicht war es Zeit zum Weinen, er hatte die Flasche geschüttelt,
     es war noch etwas übrig. Beim Ansetzen stieß er mit dem Flaschenboden gegen die blaue Pfeffermühle, sie schwankte. Er zielte,
     die Pfeffermühle fiel über die Tischkante, ihr war egal, was ihm geschah, und das Gewicht zog ihn hinab.
    Später hatte er vor dem Herd gelegen, gekrümmt, im Rücken Schmerzen, im Kopf Schmerzen, Pfefferkörner auf dem weißen Linoleum
     neben seinem Gesicht. Seine Beine sonnenbeschienen, sonnengewärmt, er war in den Flur gekrochen, weg vom Fenster.
    Er hatte es in den folgenden Tagen weiter versucht, mit Whisky, mit Wodka, doch Saufen blieb Langeweile und

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