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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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Gemisch aus Schneeresten, rötlichem Streusand und flachgetretenen Zigarettenkippen, schien nachzudenken,
     ihre Wimpern besetzt mit schwarzen Tuscheklümpchen, ein paar hinabgefallen auf die Tränensäcke. »Nein, da ist niemand, die
     Familie ist auch in den Ferien«, sie sah ihm plötzlich ins Gesicht. »Deswegen habe ich frei«, sie nickte bekräftigend, »keiner
     da, um ihn sauberzumachen.«
    »Haben Sie jemand«, fragte sie.
    »Wie meinen Sie?«
    »Haben Sie jemand? Sorgt jemand für Sie? Macht sauber, essen, einkaufen, Pflanzen gießen, redet mit Ihnen?«
    »Nein«, antwortete er und »ich habe keine Pflanzen.«
    »Gut«, sie nickte zufrieden, »so machen wir das.«
    »So machen wir was?«
    Ihr großer Mund lächelte ruhig.
    »Meine Wohnung hat nur zwei Zimmer, ich könnte Sie gar nicht unterbringen.«
    »Ein Sofa, Sie haben bestimmt ein Sofa. Ich schlafe auf dem Sofa.«
    »Nein. Auf dem Sofa kann man nicht schlafen«, er stockte, »tut mir leid, es ist zu kurz, zu kurz für einen ausgewachsenen
     Menschen.«
    |27| »Ich bin ganz klein«, sie legte die Handfläche auf ihren Scheitel, »klein wie ein Mädchen«, sie lachte, »eins zweiundsechzig«,
     sie drehte sich zu beiden Seiten, damit er sehen konnte, wie klein sie war, sah hinab auf die Turnschuhe, zu ihm hoch, »sehen
     Sie, ganz klein.« Ihre Finger waren kurz und gut gepolstert. »Kommen Sie«, sie griff nach seinem Mantelärmel.
    »Frau Potulski«, er presste die Lippen aufeinander, seine Mundwinkel zitterten, »Frau Potulski.«
    »Es ist nicht für lange«, ihre Hand legte sich auf seinen Unterarm, drückte ihn tröstend, »nicht für lange«, wiederholte sie,
     »ich rufe meine Schwester an, meine Schwester schickt mir schnell einen neuen Pass.«
    »Ich kann«, er zögerte, von ihrem Brot war nur noch die Rinde übrig, die Rinde verschwand in ihrer beigen Jackentasche, sie
     lächelte, sie hatte erstaunlich weiße Zähne. »Ich kann«, begann er noch mal, »wenn Sie nach Berlin wollen, es sind viele Polen
     in Berlin. Ich kann, wenn Sie wollen, ich kann Ihnen den Bus bezahlen, aber mitnehmen kann ich Sie nicht.«
     
    Der Regen war wieder zu Schnee geworden, zu schnell kreiselnden Daunenflocken; grau sahen sie aus, kurz bevor sie an der Windschutzscheibe
     zerschellten, grau und nicht weiß, grau wie wirbelnde Asche. Sie setzte sich auf den Platz neben ihm, sagte »warm« und schüttelte
     sich wohlig. Er nickte, dachte an den Tee in seiner Tasche.
    »Nicht verheiratet«, fragte sie, das breite Gesicht schief gelegt.
    »Ich bin Witwer«, er drehte sich weg, zum Fenster. |28| Draußen war es dunkel geworden, in der Scheibe war nur er selbst zu sehen, müde und mit zerknittertem Mantel.
    »Und, immer in Berlin?«, ihre Stimme war bemüht freundlich.
    »Ob ich immer in Berlin gelebt habe?«, er betonte die beiden letzten Worte. »Nein, seit meine Frau gestorben ist, seitdem
     wohne ich in Berlin.«
    »Wie traurig«, sagte Frau Potulski, »so traurig«, und schüttelte den Kopf.
    »Was ist traurig? Dass ich umgezogen bin?«
    »Nein. Ihre Frau«, antwortete sie geduldig.
    Sein Spiegelbild in der Scheibe zuckte mit schwarzen, wattierten Schultern, die dringend ausgebürstet werden mussten. Er schloss
     die Augen, als wollte er schlafen.
    »Sie sind Rentner«, stellte Frau Potulski fest.
    »Pensioniert«, antwortete er knapp.
    »Was machen Sie den ganzen Tag«, fragte Frau Potulski.
    »Ich fotografiere.« Er ließ die Augen geschlossen, vielleicht hörte sie auf.
    »Und was?«
    »Ist egal«, er ließ den Kopf ein wenig zur Seite sinken, als ließe die Müdigkeit seine Muskeln erschlaffen.
    »Mich würde es interessieren.«
    Sie hörte nicht auf.
    »Das meine ich nicht. Mir ist egal, was ich fotografiere.«

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    |29| 3.
    »Bitte«, sagte er, und weil sie sich vor dem dunklen Flur fürchten konnte, griff er an ihr vorbei nach dem Lichtschalter,
     doch der Lichtschalter war weg. Nur Raufasertapetenhubbel, er tastete höher, Metall stieß gegen Metall – das Schlüsselbrett
     –, tastete weiter nach unten, nicht da, nur hubbelige Raufaser, und er wusste, seine Finger zitterten. »Moment, ich mache
     kurz Licht«, sagte er. »Damit Sie auch was sehen können«, sagte er und schämte sich sogleich. Eine gerade Kante berührte seine
     Finger, plastikglatt und hart, seine Finger glitten über den Sockel, erleichtert sah er nach oben. Zur Schale aus weißem Glas
     mit Glühbirne dahinter. Und zwischen Glühbirne und Schalental, und er war sich sicher, er

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