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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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rechten Arm legte, sein Magen war plötzlich Übelkeit, weiche Übelkeit, sich
     ausdehnende Übelkeit. Speichel lief in seinem Mund zusammen, Speichel so flüssig wie Wasser, sein Mund war ein Springbrunnen,
     ein überlaufender Springbrunnen, er presste die Lippen zusammen. Etwas Hartes drückte gegen seine Schläfen, »Vorsicht«, hörte
     er die Schaffnerin rufen, ein harter Balken drückte sich in seinen Rücken. Der Tag wurde schwarz, er zog die Augenlider hoch,
     es blieb schwarz. »Achtung«, rief jemand und »Scheiße«, und das Kratzen von Füßen, von Füßen, die auf glattgetretenem Schnee
     Halt suchten. Aber das war hinter seinen Lidern, und seine Lider waren eine Mauer, und hinter der Mauer war er sicher. Die
     Übelkeit zog sich zusammen, langsam, zu einem Klumpen, einem kleinen Klumpen, den man in die Hand nehmen und hochwerfen und
     auffangen konnte wie einen Ball. Er saß auf einer Bank, einer |21| feuchten Bank, und neben ihm saß die Schaffnerin. »Das Scheißweib ist abgehauen«, sagte sie und »Fühlen Sie sich besser?«
     und »Brauchen Sie einen Arzt?«
    Er schüttelte den Kopf, »nein, danke«, und Speichel lief aus seinem Mund und tropfte auf den Mantel.
    Einen Moment saßen sie schweigend nebeneinander, stießen Atemwolken aus, er tastete nach seiner Brieftasche, sie war noch
     da. Der Schaffner kam wieder. »Weg«, sagte er.
     
    »Stimmen Sie der Aufnahme in das Schwarzfahrerregister der Deutschen Bahn zu«, fragte die Schaffnerin. »Im Falle Ihrer Zustimmung
     würden wir von einer Strafanzeige absehen«, ihre Ellbogen hatte sie auf die hellgraue Platte des Schreibtisches gestützt,
     »Sie sind noch Ersttäter«, setzte sie hinzu, bei »Ersttäter« lächelte sie.
    Er saß auf einem der schmalen Besucherstühle, schwarz mit uniformblauen Polstern, er nickte.
    »Gut«, ihr Lächeln wurde breiter, als habe er ihr eine Freude gemacht, »dann benötige ich Ihren Ausweis.« Ihr linker oberer
     Schneidezahn stand ein wenig vor, sie wandte sich dem Computermonitor zu, tippte, ihr Schreibtisch leer, nicht ein Blatt Papier
     war zu sehen, nur eine Grünpflanze, die in braunen Klümpchen statt in Erde wuchs. Sie blickte auf, »der Ausweis?«
    Er sah hinab, sah zu, wie seine behandschuhten Finger einen Knopf nach dem anderen durch die engen Ösen schoben, wie sie die
     Mantelaufschläge öffneten, seine Rechte tastete nach dem Quadrat. Kalte Luft drang mit ihr vor, die aufgestaute Wärme entwich,
     er fröstelte, als er die Brieftasche herauszog.
    |22| Es dauerte, bis er den Ausweis aus seinem lächerlich engen Fach in der Brieftasche gezerrt hatte, ihre Finger warteten auf
     der Tastatur, sie trug keinen Ehering. Das Telefon klingelte, sie bat ihn nicht um Entschuldigung, als sie nach dem Hörer
     griff. »Customer point drei«, meldete sie sich lächelnd.
    Er rührte sich nicht.
    »Ausweis«, formte sie tonlos mit den Lippen. Er legte ihn vor sich auf die Tischplatte, so dass sie ihn sehen konnte. Sie
     winkte mit den Fingern, näher zu mir, langsam schob er den Ausweis über das Furnier, bis zur Tischmitte, dort ließ er ihn
     liegen, gewellt und mit abgeknickten Ecken. Sie musste nur den Arm ausstrecken, sie nickte stumm vor sich hin, betrachtete
     ihre Fingernägel, den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Er überlegte, ob er aufstehen, den Ausweis einstecken und
     leise gehen sollte. »Hab ich auch verstanden«, sie nickte heftig, der eingeklemmte Hörer kam kurz ins Rutschen, »P wie Peter,
     O wie Otto, T wie Theodor, U wie Ulrich«, sie brach ab, lauschte kurz, »ja genau.«
     
    Die Frau im Zeitschriftenladen war überrascht. Der Bus nach Berlin fahre selten und brauche doppelt so lange und koste fast
     das Gleiche wie mit der Bahn, antwortete sie. Die Haltestelle sei vor der Post, er befände sich aber gerade am Bahnhof, am
     Hauptbahnhof von Frankfurt/Oder, er könne auch den Zug nehmen. Ja, vor der Post, aber wie gesagt.
    Es regnete, als er aus dem Bahnhofsgebäude trat, die akkuraten Linien und Kanten, mit denen der Schnee |23| die Dächer nachgezeichnet hatte, waren ins Rutschen gekommen, hingen in der Mitte durch in weichen Bögen. Frankfurt/Oder würde
     er nicht fotografieren, jetzt nicht mehr, vor dem Bahnhof warteten Taxis, er beschloss, mit dem Taxi zur Post zu fahren.
    Als er auf den ersten Wagen zuging, sah er den Fahrer durch die Windschutzscheibe hastig die Zeitung zusammenfalten und den
     Deckel auf eine Thermoskanne schrauben. Er dachte an den Tee in seiner

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