Silberhuf
stießen wir auf einen Pfad. Er war kaum benutzt, aber hier und dort entdeckten wir in der Nähe eine ausgebrannte Feuerstelle. Bald danach ging es bergab. Wir hatten die Baumgrenze erreicht.
Auf dem Pferderücken zu sitzen ist etwas ganz anderes, als im Jeep zu hocken. Es ging viel langsamer, und wir hatten mehr Muße, uns umzusehen. Der erste Baum, den wir, wie uns schien, nach einer Ewigkeit antrafen, war ein winziger, knorriger Wacholder, dort gewachsen, wo vor langer Zeit ein Vogel einen Samen fallen gelassen hatte. Er war in dem erbitterten Kampf ums Dasein windschief und, verkrüppelt geworden. Er glich einem jener Miniaturbäumchen, die die Japaner ohne ein einziges Gramm Nährstoff „heranhungern“ lassen.
Diese Bäumchen, x Jahre alt und kaum einen Meter hoch, gleichen sechzigjährigen Liliputanern, die zwar immer noch die Körpermaße eines vierjährigen Kindes besitzen, aber ein uraltes Gesicht haben.
Als nächstes stießen wir auf einen Rhododendron, der war ein wenig größer.
Allmählich wurden die Wacholder und Rhododendron größer, und ein paar verwegene Silberbirken tauchten in ihrer Mitte auf. Zuletzt begegneten wir den Kiefern und den größeren Bäumen.
Der Pfad machte einen Bogen und gesellte sich zu einem echten Fluß, einem schnell brausenden Gebirgsfluß mit flaschengrünem Wasser, das er von all den unzähligen Bächen, denen wir gefolgt waren, aufgenommen hatte. Er stürzte sich eisig von seinem hohen Bett abgerundeter Felsen hinab. Mit einem großen Getöse wurden die Steine gegeneinandergeworfen. Und gleichzeitig schickte er einen feinen Sprühregen in die Luft, der uns bis auf die Haut erschauern ließ, als wir gezwungen waren, hindurchzugehen. Dabei war der Sonnenschein so grell, daß wir jeden vorhandenen Schattenfleck aufsuchten. Nach einer Weile spreizte sich der Fluß in einem riesengroßen Tal, und wir konnten ihn bequem durchwaten. Während er müßig durch sein breites Sandbett plätscherte, sammelte er neue Kräfte für seinen nächsten Sturz in wallende, reißende Strudel.
Dann ging’s wieder bergauf, zurück zu den Kiefern und Birken, bis wir abermals die letzten verkümmerten zentimeterhohen Wacholder verließen und wieder auf die weiten Grasmatten gelangten. Wir hatten Holz mit, um einen Fasan zu grillen, den Vater geschossen hatte. Während er den Vogel am Spieß briet, teilte mir Silberhuf sehr gelassen mit, er habe seine Meinung geändert. „Ich würde jetzt sehr gerne mit euch kommen, wenn ihr diese Gegend verlaßt“, sagte er.
Ich gebe zu, ich war nicht sonderlich überrascht, denn er war die ganze Zeit über auffällig still gewesen. Er schien über etwas nachzudenken, oder vielleicht sollte ich besser sagen, sein Elektronengehirn war damit beschäftigt gewesen, ein Problem zu lösen.
„Hm“, sagte Silberhuf, „es ist mir klargeworden, daß dein Vater in Wirklichkeit ganz und gar nicht der Mann ist, der nur an Geld interessiert ist. Ich habe den Fehler gemacht, ihn mitdiesem alten chinesischen Mandarin zu vergleichen. Aber ich glaube auch, er ist in seiner Einstellung zu mir nicht frei von Schuld. Er glaubte, weil er mich gefunden und mir danach geholfen hatte, daß ich für ihn nicht mehr bin als ein Stück Eigentum. Aber ihr beide habt euer Leben für mich aufs Spiel gesetzt, obwohl ihr wußtet, daß ich nicht bereit war, mit euch zu kommen. Das beweist mir, daß dein Vater seine Einstellung zu mir geändert hat. Ich nehme an, ein Wesen wie ich sollte sich nicht mit Fragen von gut und böse, Vorzügen oder Moral beschäftigen. Da ich tatsächlich ein mechanisches und elektronisches Produkt von Menschenhand bin, ist meine einzige Aufgabe in ihren Augen, Daten zu verarbeiten und Antworten zu geben, die logisch sind und genau. Aber du weißt, daß ich von Menschen programmiert wurde, und ohne es zu wissen, haben sie mir eine Lebensanschauung vermittelt, die die Auffassung über gut und böse und viele andere nicht absolute Begriffe einschließen. In dieser Beziehung bin ich genauso ein Produkt der Gesellschaft wie du und dein Vater. Und was ihn betrifft, soweit ich das beobachten konnte, ist er ein guter Mensch! Ich bin bereit, mit euch zu kommen. Ich verlasse mich auf ihn, er wird mir nichts Böses antun.“
Ich glaube, ich brauche nicht zu betonen, wie glücklich ich war. Aber ich sagte: „Glaubst du nicht, du wirst die Berge und die Freiheit vermissen?“
Silberhuf verneinte. „Ich möchte wirklich wissen, was geschehen wäre ohne Mike. Ich
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