Silberlicht
Ich lag neben ihr im Bett und lauschte ihrem Atem. Sie hatte keine Pflegerin, keine Haushälterin. Wir waren vollkommen allein. Ich hatte nicht geahnt, wie sehr ich sie vermissen würde, bis sie still wie die Erde unter meinem Kopf lag. Meine Heilige, meine einzige Stimme in der Luft, wenn sie einen Vers gesungen oder leise vor sich hin gesagt hatte. Meine einzige Begleitung auf herbstlichen Spaziergängen. Meine Seitenumwenderin am Kamin. Ich betete zu Gott, dass er mich mit ihr gehen lassen würde.
Ich konnte mich nicht an meine früheren Sünden erinnern, an das, was ich vor meinem Tod verbrochen und was mich aus dem Himmel verbannt hatte, doch nun betete ich inbrünstig zu Gott, mich meine Schuld neben meiner Heiligen abarbeiten zu lassen. »Erinnere dich, wie ich versuchte, sie zu trösten, wenn sie einsam war«, betete ich, »und wie ich sie inspirierte, wenn ihre Feder begann, Zeile für Zeile eines Gedichts wieder auszustreichen.«
Doch Gott antwortete weder auf meine Gebete noch schien er sich erklären zu wollen. Nicht einen Moment wandten sich die grünen Augen meiner Heiligen mir zu, keinen einzigen, flüchtigen Blick des Erkennens schenkte sie mir. Meine Freundin war einfach gegangen. Die vertraute Kälte begann an meinen Füßen zu zerren, kroch meine Beine hinauf, verwandelte mich zu Eis. Nur das hartnäckige Klopfen an der Haustür rettete mich. Ich trieb durch den Schlafzimmerboden hinunter, glitt durch die Decke der Eingangshalle und durch die hölzerne Tür. Verzweifelt umklammerte ich den Körper, der dort stand, um nur ja nicht wieder in die eisige Dunkelheit zurückgeworfen zu werden. Es war ein junger Mann, der mit meiner Heiligen seit einem Jahr korrespondiert und ihre Poesie gelobt hatte und der just diesen Tag gewählt hatte, um zum ersten Mal persönlich bei ihr vorzusprechen. Er wartete mit einem Strauß Veilchen in der Hand und blickte enttäuscht zu den mit Vorhängen verdeckten Fenstern hinauf. Ich schloss meine Augen, presste mein Gesicht in seine Hand und betete zu Gott, ihn begleiten zu dürfen.
Das Klappern von Pferdehufen unterbrach mein Flehen. Ich fand mich in der Sicherheit einer Kutsche wieder, zu Füßen meines neuen Begleiters, neben den Veilchen, die er beiseitegeworfen hatte.
Und so wurde ich wieder einem Bewahrer zugeführt, der sich seiner Tat nicht bewusst war. Ich nannte ihn »meinen Ritter«, weil er zu meiner Rettung herbeigeeilt war, als ich mich in Not befand. Er war ein Schriftsteller, verwitwet und kinderlos. Er schrieb Geschichten von edlen Recken und Prinzessinnen, Monstern und Zaubersprüchen. Geschichten, die er seinen Kindern vor dem Schlafengehen hätte vorlesen können, wenn er welche gehabt hätte. Seine Verleger wollten jedoch nur seine Abhandlungen zur Heiligen Schrift veröffentlichen, nicht seine zauberhaften Erzählungen. Das machte ihn wütend und ließ ihn so steif herumlaufen wie jemand, der in einer Rüstung gefangen ist und sie nicht ablegen kann. Ich versuchte, seine Freundin zu sein, seine Arbeit zu fördern, und ich glaube, dass ich seine scharfen Worte mehr als einmal milderte, so dass sein Werk weiterhin verlegt werden konnte und das Brot in seinem Haus nicht ausging.
Fast hätte mich die Hölle ein weiteres Mal in ihren finsteren Schlund hinabgezogen, und zwar als wir beide das Theater besuchten. Mein Ritter war mit zwei Freunden dort, um einer Aufführung von
Viel Lärm um nichts
beizuwohnen. Während ich in der Loge neben seinem Stuhl stand, verliebte ich mich Hals über Kopf in die Kostüme und die Freude, die die Schauspieler ausstrahlten. Ich war meinem Ritter so nahe wie zwei Blätter einer Blüte, und doch brach ich in dem Moment, als ich einen in mir brennenden Wunsch aussprach, eine geheime Regel des Spukens. Während ich den Liebenden in dem Meer aus Licht unter mir zusah, wünschte ich, einer von ihnen wäre mein Bewahrer. Ein eiskalter Schauer fuhr mir ins Herz. Ich fiel durch den Boden und halb in mein altes Grab, bevor ich Halt fand. Ich griff nach der Hand meines Ritters und baumelte hilflos daran.
»Ich nehme es zurück«, betete ich. »Ich will niemand anderen als meinen Ritter.« Den Rest der Aufführung kämpfte ich mich aus dem Fenster der Hölle. Ein eisiger Schmerz zog von unten an mir, als ob ich auf dem schwimmenden Schiff meines eigenen treibenden Sarges stünde, bis zu den Hüften im winterlichen Meer. »Bitte, lass mich ihn wiederhaben«, bettelte ich. Als die Vorhänge fielen, wurde ich endlich auf den
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