Silberlinge
betrachtete ihre zweite Hand, wo sich die dunkle Tätowierung abzeichnete. »Ich gehe unter.«
»Was?«, fragte ich. »Was meinst du damit?«
Sie schnitt eine Grimasse und blickte mit dunklen Augen die Straße hinauf und hinab. »Ich verliere fast die Kontrolle.«
»Na gut«, sagte ich. »Wir können nicht hier herumstehen, wir müssen verschwinden.«
In diesem Augenblick heulte ein Motor auf, und eine gemietete dunkelgrüne Limousine kam um die nächste Ecke gerast. Schleudernd geriet sie kurz auf die Gegenfahrbahn und hielt mit einem Vorderrad auf dem Gehweg an.
Martin riss die hintere Tür auf. Er hatte eine Schnittwunde an der linken Schläfe und getrocknetes Blut auf der Wange. Tätowierungen, die Susans Malen ähnlich sahen, aber dicker gezeichnet waren, bedeckten ein Auge und die linke Gesichtshälfte.
»Sie sind hinter mir her«, keuchte er. »Beeilt euch.«
Das musste er uns nicht zweimal sagen. Susan schob mich in den Wagen und folgte sofort. Martin gab Gas, ehe sie die Tür ganz geschlossen hatte, und als ich mich umschaute, entdeckte ich hinter uns eine Limousine. Noch bevor wir einen Block weit gefahren waren, kam ein weiterer Wagen hinzu. Beide Verfolger beschleunigten und holten rasch auf.
»Verdammt«, sagte Martin mit einem Blick in den Rückspiegel. »Was haben Sie diesen Leuten getan, Dresden?«
»Ich habe ihren Rekrutierungsoffizier enttäuscht«, erwiderte ich.
Martin nickte und bog abrupt ab. »Ich würde sagen, die können schlecht mit Enttäuschungen umgehen. Wo ist der alte Mann?«
»Hinüber.«
Er schnaufte schwer. »Dank dieser Idioten werden wir noch alle ins Gefängnis kommen, wenn das so weitergeht. Wie dringend wollen die Sie haben?«
»Ziemlich dringend.«
Martin nickte. »Haben Sie einen sicheren Unterschlupf?«
»Meine Wohnung. Ich kann dort einige Schutzmechanismen aktivieren, die sogar einen Zeitschriftenwerber abhalten.«
Ich drehte mich zu Susan um. »Eine Weile jedenfalls.«
Martin fuhr um eine weitere Ecke. »Es ist nicht weit. Sie können hinausspringen, und wir lenken sie ab.«
»Das kann er nicht«, wandte Susan ein. »Er kann sich kaum noch bewegen. Er ist verletzt und könnte einen Schock bekommen. Er ist nicht wie wir, Martin.«
Der Fahrer runzelte die Stirn. »Was dann?«
»Ich bleibe bei ihm.«
Er starrte sie einen Moment im Rückspiegel an. »Das ist keine sehr gute Idee.«
»Ich weiß.«
»Gefährlich.«
»Ich weiß«, erwiderte sie energisch. »Es gibt aber keine andere Möglichkeit, und wir haben keine Zeit für Diskussionen.«
Martin richtete den Blick wieder auf die Straße. »Bist du sicher?«
»Ja.«
»Dann möge Gott mit euch beiden sein. Noch sechzig Sekunden.«
»Moment mal«, sagte ich. »Was habt ihr zwei…«
Erneut fuhr Martin mit quietschenden Reifen um eine Ecke und gab Vollgas. Ich prallte auf meiner Seite gegen die Tür und presste die Wange an die Scheibe. Wir waren schon in der Nähe meiner Wohnung. Dann blickte ich kurz auf den Tacho und wünschte sofort, ich hätte es nicht getan.
Susan langte an mir vorbei zum Türgriff. »Wir steigen hier aus.«
Ich starrte sie an und deutete entgeistert nach draußen.
Sie erwiderte meinen Blick, und wieder entstand dieses harte, entzückte Lächeln auf ihren Lippen. »Vertrau mir, das ist eine leichte Übung.«
»Comics lesen ist eine leichte Übung. Streichelzoos sind eine leichte Übung. Aus einem Auto springen ist Wahnsinn.«
»Du hast das doch auch schon einmal gemacht«, hielt sie mir entgegen. »Die Lykanthropen.«
»Das war etwas anderes.«
»Ja. Du hast mich damals im Auto sitzen lassen.« Susan krabbelte über meinen Schoß, der sie nicht zuletzt dank ihrer engen Lederhosen sehr zu schätzen wusste. Meine Augen pflichteten meinem Schoß aus vollem Herzen bei. Besonders hinsichtlich der engen Lederhosen. Dann bückte Susan sich, legte eine Hand an die Tür und bot mir die andere an. »Komm schon.«
Sie hatte sich im letzten Jahr verändert – oder vielleicht auch nicht. In dem, was sie tat, war sie schon immer gut gewesen. Sie hatte sich einfach nur ein neues Gebiet gesucht und arbeitete nicht mehr als Reporterin. Inzwischen konnte sie dämonische Mörder im Nahkampf ausschalten, Großgeräte aus der Verankerung reißen und herumschleudern und im Dunkeln gezielt Granaten werfen. Wenn sie behauptete, sie könne aus einem fahrenden Auto springen und dafür sorgen, dass wir überlebten, dann glaubte ich ihr. Was soll’s, dachte ich. Ich hatte so etwas ja tatsächlich
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