Silbermantel
Strieme, wo der gewundene Vellinreif ihre Haut verletzt hatte. Daran erinnerte sie sich noch. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, ohne ihn wäre ich gestorben.« Sie bewegte leicht die Hand, um ihm zu zeigen, was sie meinte.
Er gab keine Antwort, doch eine ungeheure Anspannung löste sich von seinem untersetzten, muskulösen Leib, als er sie sprechen hörte. Sie blickte sich um; den Schatten nach war es später Nachmittag.
»Das ist nun das zweite Mal, dass du mich hierher tragen musstest«, bedauerte sie.
»Das soll Euch nicht kümmern, Herrin«, beruhigte er sie mit seiner rauen, verlegenen Stimme.
»Nun, es ist sonst nicht meine Art, in Ohnmacht zu fallen. Das würde ich nie annehmen.« Er senkte den Blick.
»Was ist mit dem Berg geschehen?« fragte sie, beinahe unwillig, es zu erfahren.
»Es ist vorbei«, erwiderte er. »Kurz vor Eurem Erwachen.«
Sie nickte. Das war sinnvoll.
»Hast du mich den ganzen Tag beobachtet?« Er blickte schuldbewusst drein. »Nicht die ganze Zeit, Herrin. Es tut mir leid, aber die Tiere waren verschreckt, und …«
Da musste sie innerlich lächeln, jetzt übertrieb er ein wenig.
»Es ist kochendes Wasser da«, wechselte Tyrth das Thema nach kurzem Schweigen. »Darf ich Euch etwas zu trinken bereiten!«
»Ja, bitte.« Sie sah zu, wie er zürn Feuer humpelte. Mit geschickten, sparsamen Handgriffen bereitete er einen Topf mit einem Kräuteraufguß zu und trug ihn dann zum Tisch neben dem Bett.
Es war, entschied sie, an der Zeit, es auszusprechen: »Du brauchst nicht mehr so zu tun, als würdest du hinken.«
Er verhielt sich sehr gefasst, das musste man ihm zugestehen. Nur ein kurzes unsicheres Flackern war in seine dunklen Augen getreten, doch seine Hände blieben beim Einschenken des Getränks ganz ruhig. Erst als er damit fertig war, setzte er sich zum allerersten Mal und musterte sie lange Zeit schweigend.
»Hat sie es Euch anvertraut?« fragte er schließlich, und sie hörte zum ersten Mal seine wahre Stimme.
»Nein. Sie hat sogar gelogen. Sie hat mir zu verstehen gegeben, es sei nicht ihr Geheimnis, das sie mir enthüllen dürfe.« Sie zögerte. »Ich habe es von Eilathen am See erfahren.«
»Das habe ich mit angesehen. Ich war erstaunt.«
Kim fühlte, dass jene unpassende senkrechte Linie ihre Stirn furchte.
»Ysanne ist fort, wie du sicher weißt.« Sie bemerkte das so ruhig sie konnte.
Er nickte. »Soviel ist mir bekannt, aber ich verstehe nicht, was geschehen ist. Euer Haar … «
»Sie hatte Lökdal dort unten aufbewahrt«, sagte Kim offen. Sie verspürte beinahe das Verlangen, ihn damit zu verletzen. »Sie hat den Dolch gegen sich selbst gerichtet.«
Er reagierte nicht, und der Gedanke hinter ihren Worten tat ihr sogleich leid. Eine seiner Hände hob sich und legte sich über seinen Mund, eine seltsame Geste für so einen Mann. »Nein«, hauchte er. »O Ysanne, nein!« Sie konnte seine Trauer hören.
»Du verstehst, was sie getan hat?« fragte sie. Ein Zögern lag in ihrer Stimme; sie unterdrückte es. Der Schmerz war so groß.
»Ich weiß, was der Dolch vermag, ja. Ich wusste nicht, dass sie ihn hier hatte. Sie muss dich sehr lieb gewonnen haben.«
»Nicht mich allein. Uns alle.« Sie verhielt. »Vor fünfundzwanzig Jahren hat sie von mir geträumt. Noch ehe ich geboren war.« Machte es das etwa einfacher? Gab es überhaupt etwas, das die Sache einfacher machte?
Seine Augen weiteten sich. »Davon habe ich nie erfahren.« »Wie denn auch?« Er schien Lücken in seinem Wissen als tiefe Schmach zu empfinden. Aber es gab noch etwas zu sagen. »Ich habe dir noch mehr mitzuteilen«, fuhr Kim fort. Niemand darf seinen Namen nennen, dachte sie, und trotzdem sprach sie ihn aus: »Dein Vater ist heute Nachmittag gestorben, Aileron.«
Es wurde still. »Das ist mir bekannt«, erwiderte der ältere Prinz von Brennin.
Und einen Augenblick darauf waren sie zu hören: Sämtliche Glocken in Paras Derval läuteten. Die Todesglocken, die das Ableben eines Königs verkünden.
»Es tut mir leid«, bekundete sie ihm ihr Mitgefühl. Sein Mund zuckte, dann blickte er aus dem Fenster. Du kaltblütiger Hund, dachte sie. Das ist mir bekannt. Er hatte Schlimmeres verdient, sicher; bestimmt hatte er das. Sie wollte ihm das gerade sagen, als Aileron sich ihr wieder zuwandte und sie den Tränenstrom sah, der sich unaufhörlich über seine Wangen ergoss.
Lieber Gott, dachte sie zittrig und durchlitt einen Anfall von Selbstverachtung. Er mag ja schwer zu durchschauen sein,
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