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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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erklärte Kevin. »Lieder verwirren bloß.« Es bedeutete zu große Anstrengung, den Schmerz zu unterdrücken. Er ließ sich von ihm überfluten. Manchmal, hatte sein Vater gesagt, kann man gar nichts unternehmen. O Abba, dachte er, weit entrückt und allein in seinem Schmerz.
    »Morgen«, schloss Ailell der Großkönig die Diskussion und erhob sich erneut, hager und groß, »morgen bei Sonnenaufgang treffe ich euch hier. Wir werden sehen, was die Nacht mit sich bringt.«
    Dies war die Aufforderung zum Gehen. Sie zogen sich zurück und ließen den König endlich allein mit seinen Jahren und seiner Selbstverachtung in seinem Ratssaal sitzen, und mit dem Bild des Fremden vor Augen, der in seinem Namen am Baum stand, im Namen des Gottes, in seinem Namen.
    Sie traten hinaus auf den inneren Schlosshof, Diarmuid, Loren, Matt und Kevin Laine. Schweigend gingen sie auf und ab, dachten an das gleiche Gesicht, und Kevin war für die Anwesenheit von Freunden dankbar.
    Die Hitze war grausam, und der derbe Wind quälte sie unter der kränklichen, dunstverhangenen Sonne. Prickelnde Spannung schien mit dem Gefüge dieses Tages verwoben zu sein. Und dann kam plötzlich noch etwas anderes hinzu.
    »Haltet an!« rief Matt, der Zwerg, dessen Volk aus den Höhlungen der Erde, aus den Wurzeln der Berge, aus dem uralten Felsgestein stammte. »Haltet an! Da kommt etwas!«
    Und in eben diesem Augenblick erhob sich nordwestlich von ihnen Kim Ford, ein blind machendes Pochen im Kopf, eine Vorahnung ungeheurer Abscheulichkeit, und begab sich, als werde sie dazu gezwungen, hinter die Hütte, wo Tyrth bei der Arbeit war. »O Gott«, flüsterte sie. »O mein Gott!« Und sah mit verschwommenem Blick, wie sich der Vellinreif an ihrem Handgelenk wand, und wusste, dass er nicht abwehren konnte, was kam, was seit so langer Zeit im Kommen war, so schrecklich, was niemand vorausgesehen hatte, niemand, was nun hier war, jetzt, in diesem Moment! Sie schrie, von Qualen überwältigt.
    Und das Dach der Welt zerbarst.
    Weit, weit im Norden, mitten im Eis, schwang sich Rangat, der Wolkenstemmer, zehn Meilen hoch in den Himmel, überragte ganz Fionavar, Herr dieser Welt und eintausend Jahre lang Kerker eines Gottes.
    Doch nicht mehr. Ein ungeheurer Geysir blutroten Feuers schoss mit einem Knall gen Himmel, der selbst in Cathal noch zu hören war. Rangat barst mit einer Feuersäule so hoch, dass die Rundung der Welt sie nicht verbergen konnte. Und als die Flamme auf ihrem höchsten Punkt angelangt war, sah man, dass sie sich in die fünf Finger einer Hand verwandelte, klauenbewehrt, oh, klauenbewehrt, und sich mit dem Wind südwärts krümmte, um jedermann ihrem Zugriff auszusetzen, um sie allesamt in Stücke zu reißen.
    Ein Fehdehandschuh war sie, die ungestüme Proklamation der Befreiung, gerichtet an jene, die sich verkrochen hatten, die von nun an zu ewiger Sklaverei verdammt waren. Denn hatten sie schon die Svart Alfar gefürchtet, gezittert vor einem abtrünnigen Magier und vor der Macht Galadans, was blieb ihnen da zu tun übrig, als sie die feurigen Finger den Himmel zerkrallen sahen?
    Zu wissen, dass Rakoth Maugrim entfesselt und frei war und zum Zwecke seiner Rache den Berg selbst unterwerfen konnte?
    Und mit dem Nordwind kam das triumphierende Lachen des ersten und gefallenen Gottes, welcher auf sie niedersauste wie ein Hammer, und Feuer brachte, den Krieg brachte.
     
    Die Explosion traf den König wie eine Faust mitten ins Herz. Er taumelte weg vom Fenster des Ratssaals und sank auf einen Stuhl, das Gesicht grau, die Hände krampfhaft öffnend und schließend, während er um Atem rang.
    »Hoheit?« Tarn, der Page, eilte in den Saal und kniete nieder, Entsetzen im Blick. »Holicit?«
    Doch Ailell war unfähig, zu sprechen. Er hörte nur das Lachen, das der Wind mit sich trug, sah nur die sich krümmenden Finger, die sie zu packen trachteten, riesengroß und blutrot, eine tödliche Wolke am Himmel, die keinen Regen brachte, sondern Vernichtung.
    Er schien allein zu sein. Tarn musste fortgerannt sein, um Hilfe zu holen. Unter großen Mühen stand Ailell keuchend auf und schleppte sich durch den kleinen Vorraum zu seinen Gemächern. Dort stolperte er auf die innere Tür zu und öffnete sie.
    Er durchquerte den wohlbekannten Gang. An seinem Ende blieb der König vor dem Sehschlitz stehen. Sein Sehvermögen war getrübt: Neben ihm schien ein Mädchen zu stehen. Es hatte weißes Haar, und das war unnatürlich. Doch seine Augen waren gütig, wie es die

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