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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Brise, er konnte sie auf der Haut spüren, und doch rief sie in den Blättern keinen Laut hervor. Ivors Nackenhaare sträubten sich. Er mühte sich inmitten der wie verzauberten Stille, ruhig zu bleiben, als er Tabor zehn Schritte voraus plötzlich stehen bleiben und sich ganz still verhalten sah. Und gleich darauf erblickte Ivor ein schimmerndes Wesen, das zwischen den Bäumen hervorkam und vor seinem Sohn stehen blieb.
     
    Im Westen lag das Meer, hatte sie von Anfang an gewusst, obwohl sie gerade erst geboren war. Daher hatte sie sich in östlicher Richtung von dem Geburtsort entfernt, den sie mit Lisen gemein hatte – auch wenn sie das nicht wusste –, und als sie zwischen den versammelten Mächten, den sichtbaren wie den unsichtbaren, hindurchgeschritten war, hatte sich im Wald ein Raunen erhoben und war wieder verebbt wie eine Woge, als wollten die Bäume es dem Meer gleichtun.
    Leichtfüßig schritt sie dahin, wusste den Erdboden gar nicht anders zu betreten, und rechts und links huldigten ihr die Kreaturen des Waldes, denn sie gehörte Dana und war ein Geschenk in einer kriegerischen Zeit, und war somit mehr als nur schön.
    Und auf ihrer Wanderung erschien ein Gesicht vor ihrem inneren Auge – wie, das wusste sie nicht und würde es auch nie erfahren – doch dieses Gesicht erschien ihr noch vor dem Zeitpunkt ihrer Geburt, tiefgebräunt, sehr jung, mit dunklem, zerzaustem Haar und Augen, in die hineinzublicken sie sich sehnte. Obendrein und vor allen Dingen kannte er ihren Namen. Daher wandte sie sich hierhin und dorthin, gänzlich unwissend, zart und umgeben von Würde, auf der Suche nach einem bestimmten Ort zwischen den Bäumen.
    Dann war sie dort angelangt, und er war vor ihr da und wartete, seine Augen hießen sie willkommen, akzeptierten ganz und gar, was sie war, ihr gesamtes Wesen, die gegensätzlichen Aspekte des Geschenks.
    Sie spürte seine Gedanken zärtlich in ihrem Kopf und berührte ihn ebenfalls sacht, wie mit ihrem Horn. Wenn das Ende naht, haben wir nur einander, dachte sie, ihr erster derartiger Gedanke. Wo war er hergekommen?
    Ich weiß, antwortete er ihr in Gedanken. Es wird Krieg geben.
    Dafür wurde ich geboren, erwiderte sie, plötzlich wissend, was unter der leichten, ach so leichten Grazie ihrer Gestalt verborgen lag. Es erschreckte sie.
    Er bemerkte das und kam näher. Sie war von der Farbe des aufgegangenen Mondes, doch ihr Horn, das über das Gras strich, als sie den Kopf senkte, um ihn seiner Berührung darzubieten, war silbern.
    Mein Name? fragte sie.
    Imraith-Nimphais, sagte er zu ihr, und sie spürte Macht in sich aufleuchten wie ein Stern.
    Fröhlich fragte sie: Möchtest du fliegen?
    Sie spürte sein Zögern.
    Ich würde nicht zulassen, dass du fällst, beteuerte sie ihm, ein wenig gekränkt.
    Da spürte sie sein Lachen. Oh, ich weiß, du Herrliche, erwiderte er, aber wenn wir fliegen, wirst du womöglich gesehen, und unsere Zeit ist noch nicht gekommen.
    Sie schüttelte ungeduldig den Kopf, und ihre Mähne wehte.
    Die Bäume standen hier nicht so dicht, sie konnte die Sterne erblicken, den Mond. Sie wollte sie haben. Es ist keiner da, der mich sehen könnte, außer einem Mann, beruhigte sie ihn. Der Himmel rief nach ihr.
    Mein Vater, erklärte er. Ich liebe ihn.
    Dann will ich ihn auch lieben, entgegnete sie, aber jetzt habe ich den Wunsch, zu fliegen. Komm!
    Da sagte er in ihrem Innern: Ich komme und setzte sich in Bewegung, um auf ihren Rücken zu steigen. Er war ihr überhaupt keine Last; sie war sehr kräftig und würde noch kräftiger werden. Sie trug ihn vorbei an dem anderen, älteren Mann, und weil Tabor ihn liebte, neigte sie ihr Horn vor ihm, als sie vorbeiflogen.
    Dann hatten sie die Bäume hinter sich gelassen und befanden sich über dem weiten Grasland und oh, der Himmel, soviel Himmel über ihnen. Zum ersten Mal entfaltete sie ihre Flügel, und in einem Freudentaumel stiegen sie empor, um die Sterne und den Mond zu grüßen, dessen Kind sie war. Sie spürte seine Gedanken in ihrem Innern, das freudige Pochen seines Herzens, denn sie waren für alle Zeit verbunden, und sie wusste, dass sie herrlich anzusehen waren, wie sie durch den weiten Nachthimmel zogen, Imraith-Nimphais und der Reiter, der ihren Namen kannte.
     
    Als das rötlichbraune Einhorn, das sein Sohn ritt, im Vorüberkommen das Horn vor ihm neigte, konnte Ivor nicht vermeiden, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er musste immer zu schnell weinen, wie Leith kritisch anzumerken pflegte, aber

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