Silbermantel
dies, dieses erhabene Geschehen war doch sicherlich …?
Und dann, als er sich umdrehte, um ihnen zu folgen, sah er, dass es noch erhabener werden sollte, denn das Einhorn flog in den Himmel auf. Da achtete Ivor nicht mehr auf die Zeit, denn er sah Tabor und sein Fastentier am nächtlichen Himmel dahinschweben. Er konnte beinahe die Freude nachempfinden, die sie an ihrer neu entdeckten Fähigkeit des Fliegens hatten, und er war tiefbeglückt. Er hatte Pendaran betreten und war heil wieder hervorgekommen und hatte obendrein zugesehen, wie dieses Geschöpf der Göttin seinen Sohn wie einen Kometen über die Ebene trug.
Er war zu sehr Häuptling und zu weise, zu vergessen, dass dunkle Zeiten bevorstanden. Selbst dieses Geschöpf, dieses Gottesgeschenk, konnte nicht ganz und gar angenehm sein, nicht mit dieser Färbung, die dem Monde glich, wie Blut. Auch würde Tabor nie mehr so sein wie zuvor, das wusste er. Doch diese Sorgen waren eine Angelegenheit des Tageslichts – heute Nacht konnte er sein Herz mit den beiden fliegen lassen, den beiden Jungen, die zwischen ihm und den Sternen herumtollten. Ivor lachte, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hatte, wie ein Kind.
Nach unbestimmter Zeit kamen sie leise herabgeschwebt, nicht weit von der Stelle, wo er stand. Er sah zu, wie sein Sohn den Kopf gegen den des Einhorns bettete, neben das silbrig schimmernde Horn. Dann trat Tabor einen Schritt zurück, und das Tier wandte sich mit unendlicher Anmut ab und kehrte in den dunklen Wald zurück.
Als Tabor sich nach ihm umdrehte, waren seine Augen wieder klar. Wortlos, denn es gab nichts zu sagen, breitete Ivor die Arme aus, und sein jüngstes Kind eilte herbei und schmiegte sich in sie.
»Du hast alles gesehen?« fragte Tabor schließlich, den Kopf an der Brust seines Vaters.
»Das habe ich. Ihr wart herrlich anzuschauen.« Tabor richtete sich auf, und in seinen Augen spiegelte sich ihr Tanz, ihre Jugend. »Sie hat sich vor dir verneigt! Ich hatte sie nicht darum gebeten. Ich habe nur gesagt, du seiest mein Vater, und ich liebte dich, da hat sie erwidert, sie wolle dich auch lieben, und sie hat sich verneigt.«
Ivors Herz war voller Licht. »Komm«, forderte er seinen Sohn bärbeißig auf, »es ist Zeit, heimzugehen. Deine Mutter wird vor Sorge weinen.«
»Mutter?« fragte Tabor in so komischem Ton, dass Ivor lachen musste. Sie stiegen auf die Pferde und ritten zurück, langsam nun, und zusammen, über die Ebene, die ihnen gehörte. An jenem Vorabend des Krieges schien sich seltsamer Friede auf Ivor herabzusenken. Hier war sein Land, das Land seines Volkes seit so langer Zeit, dass die Jahre ihre Bedeutung verloren. Von Andarien bis Brennin, von den Bergen bis zum Pendaran gehörte ihnen das gesamte Grasland. Die Ebene war der Inbegriff der Dalrei, und umgekehrt. Er ließ sich von diesem Wissen durchfluten wie von einem musikalischen Akkord, tragend und lange anhaltend.
Es würde noch lange anhalten müssen in den Tagen, die vor ihnen lagen, das wusste er, wenn die Finsternis mit voller Kraft über sie kam. Und er wusste auch, dass es vielleicht gar nicht so lange fortbestehen würde. Morgen, dachte Ivor, morgen werde ich mir Sorgen machen, und er ritt mit seinem Sohn in Frieden über die Steppe, bis er wieder im Lager war und Leith am Westtor auf sie warten sah.
Als er sie entdeckte, ließ Tabor sich vom Pferd gleiten und rannte in ihre Arme. Ivor zwang seine Augen, trocken zu bleiben, als er das sah. Sentimentaler Narr, schimpfte er sich, sie hatte völlig recht. Als Leith, die immer noch den Knaben umschlungen hielt, ihn fragend anblickte, nickte er so munter wie er konnte.
»Ins Bett, junger Mann«, gebot sie streng. »Wir brechen in wenigen Stunden auf. Du brauchst Schlaf.«
»O Mutter«, beklagte sich Tabor, »ich habe doch nichts anderes getan als schlafen, seit –«
»Ins Bett!« wiederholte Leith mit einer Stimme, die all ihre Kinder nur zu gut kannten.
»Ja, Mutter«, erwiderte Tabor mit so uneingeschränkter Fröhlichkeit, dass sogar Leith lächeln musste, während sie zusah, wie er im Lager verschwand. Vierzehn, dachte Tabor, ungeachtet dessen, was vorgefallen ist. Völlig ungeachtet.
Er schaute auf seine Frau herab. Sie begegnete schweigend seinem Blick. Dies war, stellte er fest, ihr erster Moment allein, seit der Berg Feuer gespien hatte.
»Es war alles in Ordnung?« fragte sie. »Ja. Es war etwas ungeheuer Schönes.«
»Ich glaube, ich will das im Augenblick noch gar nicht wissen.«
Er nickte
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