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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Zeitpunkt.« Er lächelte ein wenig. »Warum fällt es dir so viel leichter, einen wehrlosen Mann zu schlagen, als ihm das Blut vom Gesicht zu wischen?«
    Ihre Antwort war förmlich, ausweichend, aber er hatte gesehen, dass sie seinem Blick nicht hatte standhalten können. »Die Göttin ist hin und wieder zu Gnadenakten fähig«, erklärte sie, »Aber nicht zur Sanftheit.«
    »Hast du sie so kennen gelernt?« fragte er. »Wie, wenn ich dir mitteilen würde, dass sie mir in der vergangenen Nacht Erbarmen entgegengebracht hat, so liebevoll, dass es keine Worte gibt, es zu beschreiben?«
    Sie schwieg.
    »Sind wir nicht vor allen Dingen menschliche Wesen?« fuhr er fort. »Mit einer entsetzlich großen Bürde und einer Stütze, die wir uns teilen müssen. Gewiss bist du doch ebenso Jaelle wie ihre Priesterin.«
    »Da hast du unrecht«, widersprach sie. »Ich bin nichts als ihre Priesterin. Es gibt niemand anderen.« »Das erscheint mir sehr traurig.«
    »Du bist bloß ein Mann«, entgegnete Jaelle, und Paul war über das bestürzt, was in ihren Augen aufblitzte, ehe sie sich umdrehte und den Raum verließ.
     
    Kim hatte während der Nacht die meiste Zeit wachgelegen, allein in ihrem Zimmer im Palast, und war sich des anderen, leeren Bettes auf schmerzliche Weise bewusst gewesen. Sogar hier drinnen reagierte der Baelrath auf den Mond, glühte hell genug, um Schatten auf der Wand zu erzeugen: von einem Ast vor dem Fenster, der im Regenwind schwankte, von den Umrissen ihres eigenen weißen Haars, den Konturen einer Kerze neben dem Bett, doch keine Jen, keinen Schatten von ihr. Kim versuchte es. Sie hatte keinerlei Ahnung, wie ihre Macht beschaffen sein mochte, wie sie den Stein gebrauchen musste, und doch schloss sie die Augen und sandte ihr Bewusstsein hinaus in die stürmische Nacht, so weit gen Norden, wie es ihr gelingen wollte, so deutlich, wie es ihr gelingen mochte, aber sie fand nichts als die Düsternis ihrer eigenen Vorahnungen.
    Als der Stein wieder verblasste, nur noch ein roter Ring an ihrem Finger, wusste sie, dass der Mond untergegangen war. Demnach war es schon sehr spät, von der Nacht nicht mehr viel übrig. Kim lehnte sich müde zurück und träumte von einem Verlangen, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug.
    In deinen Träumen musst du dich bewegen lernen, hatte Ysanne sie gelehrt, sagte sie immer noch, während Kim wieder einmal tief in die Traumwelt hinabsank.
    Und diesmal war ihr der Ort bekannt. Sie wusste, wo sich jener Wirrwarr mächtiger Buckel aus geborstenem Stein befand, und wer darunter begraben lag, um von ihr erweckt zu werden.
    Nicht er, nicht der, den sie suchte. Das wäre zu einfach gewesen. Jener Pfad war noch finsterer als der, welcher sich nun vor ihr erstreckte, und er führte vorbei an den Toten zürn Ort ihrer Träume. Das wusste sie jetzt. Es war sehr traurig, auch wenn ihr klar war, dass die Götter es nicht so empfinden würden. Die Sünden der Söhne, dachte sie in ihrem Traum, und kannte diesen
    Ort, und fühlte, dass ein Wind aufkam und ihr Haar, oh, ihr weißes Haar hinter ihr herwehen ließ.
    Der Weg hin zu dem Krieger führte durch das Grab und die auferstandenen Gebeine des Vaters, der ihn zu Lebzeiten niemals gesehen hatte. Was war sie, dass sie dies wusste?
    Doch dann befand sie sich an einem anderen Ort, und sie hatte keine Gelegenheit, sich darüber zu wundern. Sie war in der Kammer unter der Hütte, wo Lisens Keif nach wie vor glänzte, daneben Colans Dolch, wo Ysanne gestorben war und mehr als gestorben. Die Seherin war jedoch bei ihr, war in ihr, denn sie kannte das Buch, die Pergamentseite im Innern des Buches, wo die Beschwörung zu finden war, mit der man den Vater unversehrt aus seinem Grab hervorholen und veranlassen konnte, den Namen seines Sohnes dem zu nennen, der den Ort der Beschwörung kannte. Nirgendwo gab es Frieden, nirgendwo himmlische Ruhe. Sie besaß nichts davon, hatte nichts davon zu gewähren, sie trug den Kriegsstein an ihrer Hand. Sie würde die Toten aus ihrer Ruhe aufstören und die Untoten ihrem Schicksal zuführen.
    Was war sie, dass es dazu kommen sollte?
     
    Im ersten Licht des Morgens ließ sie sich durch den Regen zurückgeleiten. Eine bewaffnete Eskorte von dreißig Mann kam mit ihr; Truppen der Nordfeste, die Aileron unterstellt gewesen waren, bevor er in die Verbannung gehen musste. Mit kühlem Geschick umringten sie sie auf dem Ritt zum See. An der letzten Wegbiegung lagen immer noch die Leichen der von Aileron

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