Silbermantel
damit herum, dann gab er zu, was selten vorkam, dass er der Unterlegene war. »Warte«, wandte Loren sich an sie und hörte Matts schnaubendes Lachen neben sich. »Was hast du denn für Neuigkeiten?« Der Zwerg, war ihm bewusst, fand diesen ganzen Wortwechsel ungeheuer amüsant. Das war er bestimmt auch, nahm er an.
»Er lebt«, sagte Leila, und plötzlich war überhaupt nichts Amüsantes mehr daran.
*
Es hatte völlige Dunkelheit geherrscht. Ein Gefühl der Bewegung, so als werde er bewegt. Die Sterne ganz nah, dann unmöglich weit entfernt und immer weiter zurückweichend. Alles wich zurück.
Beim nächsten Mal war es ein Eindruck, verschwommen gesehen wie durch regennasses Glas, von flackernden Kerzen und grauen Gestalten, die jenseits ihrer Lichtkegel kaum wahrnehmbar umhergingen. Er war jetzt zur Ruhe gekommen, doch bald danach fühlte er, wie er wieder zurückglitt, einer Welle gleich, die sich ins dunkle Meer zurückzieht, wo es keine Unterbrechung des Gleichmaßes gab.
Bis auf die Tatsache seiner Anwesenheit.
Bis auf die Tatsache, dass er am Leben war. Paul öffnete die Augen, zurückgekehrt aus weiter Ferne. Und es schien, als liege er, am Ende seiner langen Reise, auf einem Bett in einem Raum, wo es tatsächlich brennende Kerzen gab. Er war sehr matt. Allerdings litt er erstaunlich wenig körperliche Schmerzen, und die andere Art Schmerzen war ihm so neu gewährt, dass sie ihm beinahe wie ein Luxus vorkamen. Er tat einen langsamen Atemzug, der Leben bedeutete, und dann einen zweiten, mit dem er den alten Kummer willkommen hieß.
»O Rachel«, hauchte er kaum hörbar. Einst verpönt, der verpönteste Name. Doch dann war die Fürsprache erfolgt, vor seinem Tod, und die Begnadigung, welche die Trauer zuließ.
Nur war er nicht gestorben. Ein Gedanke, schmerzhaft wie eine Klinge, bohrte sich in sein Bewusstsein: War er am Leben, weil er versagt hatte? War es das? Unter großen Mühen wandte er den Kopf. Diese Bewegung gab den Blick auf eine hochgewachsene Gestalt frei, die neben dem Bett stand und zwischen den Kerzen auf ihn herabsah.
»Du befindest dich im Tempel der Mutter«, sagte Jaelle. »Draußen regnet es.«
Regen. In ihren Augen lag bittere Herausforderung, aber das focht ihn in diesem Moment nicht an. Er war über sie hinausgewachsen. Er blickte weg. Es regnete; er war am Leben. Zurückgeschickt. Pfeil des Gottes.
Er empfand die Gegenwart Mörnirs, in seinem Innern, verborgen, stillschweigend. Dies bedeutete eine Bürde für ihn, und bald würde er sich damit auseinandersetzen müssen, wenn auch nicht jetzt, noch nicht. Jetzt hieß es still daliegen, das Gefühl genießen, dass er zum ersten Mal seit so langer Zeit wieder er selber war. Zehn Monate lang. Und drei Nächte, die so lang gewesen waren wie die Ewigkeit. Oh, er konnte sich ein wenig der Freude hingeben, das war erlaubt. Mit geschlossenen Augen versank er tief in seine Kissen. Er war entsetzlich matt, aber Mattigkeit war jetzt nichts Schlimmes. Es regnete.
»Dana hat zu dir gesprochen.«
Er konnte die Wut hören, die ihrer Stimme Feuer gab. Zuviel Wut; er ignorierte sie. Kevin, dachte er. Ich möchte Kev sehen. Bald, sagte er zu sich, nachdem ich geschlafen habe.
Sie schlug ihm ins Gesicht. Er spürte, wie einer ihrer Fingernägel ihm einen blutigen Kratzer zufügte.
»Du befindest dich im Heiligtum. Antworte!« Paul Schafer öffnete die Augen. Mit seinem eigenen kühlen Zorn stellte er sich ihrer Wut. Diesmal wandte Jaelle den Blick ab.
Nach einer Weile ergriff sie das Wort und starrte dabei auf eine der langen Kerzen. »Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, die Göttin sprechen zu hören, ihr Gesicht zu sehen.« Erbitterung hatte sie der Stimme beraubt. »Doch mir wird es nicht zuteil. Nichts von alledem. Dir dagegen, einem Mann, und noch dazu einem, der sich gänzlich von ihr abgewandt hat und dem Gott in diesem Walde zu, wurde die Gnade ihrer Gunst gewährt. Wunderst du dich immer noch, warum ich dich hasse?«
Die völlige Tonlosigkeit ihrer Stimme machte ihre Worte grauenhafter, als jeder Wutausbruch es vermocht hatte. Paul blieb einen Augenblick lang stumm, dann sagte er: »Ich bin ebenfalls ihr Kind. Neide mir nicht das Geschenk, das sie mir dargebracht hat.«
»Dein Leben, meinst du?« Wieder blickte sie ihn an, groß und schlank zwischen den Kerzen.
Er schüttelte den Kopf; es bedeutete immer noch eine Anstrengung für ihn. »Nicht das. Zunächst vielleicht, aber nicht jetzt. Der Gott war es, der mir das Leben
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