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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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eine andere Stimme an. »Er ist unten. Du bist als nächster dran, Freund Kevin«, bestimmte Diarmuid. Und da war tatsächlich das Tanzen des Seils zu erkennen, mit dem Erron von unten das Signal gab.
    Kevin setzte sich in Bewegung, ehe er zum Nachdenken kam, trat an das Seil, spuckte in die Hände, wie Erron es getan hatte, packte fest zu und glitt alleine über den Rand der Klippe.
    Indem er seine gestiefelten Füße benutzte, sich abzustützen und die Balance zu halten, ließ er sich Hand über Hand in das anschwellende Donnern der Saeren-Schlucht hinab. Die Klippe war rau, und es bestand Gefahr, dass das Seil sich an einem der Felsvorsprünge aufrieb – aber daran war nichts zu ändern, genauso wenig wie am Brennen seiner Handflächen, als das Tau schmerzhaft durch seine Hände glitt. Er blickte nur ein einziges Mal hinunter, und die rasenden Wasser tief drunten ließen ihn schwindeln. Kevin wandte sein Gesicht dem Abhang zu und atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe; dann setzte er den Abstieg fort, nutzte Hände und Füße, Seil und Felsvorsprung, um dort hinunter zu gelangen, wo der Fluss seiner harrte. Mit der Zeit wurde es zu einem beinahe mechanischen Vorgang, mit dem Fuß nach Felsspalten zu tasten, sich abzustoßen, während er sich am Strick hinabhangelte. Er ignorierte die Qualen und die Erschöpfung, den immer wiederkehrenden Schmerz seiner überforderten Muskulatur, er vergaß sogar, wo er sich befand. Die Welt bestand nur noch aus einem Seil und einer Felswand. So schien es immer gewesen zu sein.
    So geistesabwesend war Kevin, dass sein Herz vor Entsetzen einen Moment lang aussetzte, als Erron seinen Knöchel berührte. Erron half ihm, auf den schmalen Streifen Land herabzusteigen, kaum drei Meter von den vorbeirauschenden Wassermassen entfernt, die sie mit Gischt durchnässten. Das Tosen war überwältigend; es ermöglichte kaum eine Verständigung.
    Erron ruckte an dem schlaffen Seil, und kurz darauf begann es neben ihnen unter dem Gewicht eines weiteren Körpers hin und her zu baumeln. Paul, dachte Kevin müde, das wird Paul sein. Dann überfiel ihn ein anderer Gedanke und nahm ungeachtet seiner Erschöpfung unerbittlich Gestalt an. Es ist ihm egal, ob er abstürzt. Die Erkenntnis kam ihm mit dem Gewicht einer unwiderlegbaren Wahrheit. Kevin blickte empor und begann hastig die Felswand abzusuchen, aber der Mond beleuchtete nur die Südseite, und so blieb Schafers Abstieg unsichtbar. Nur das träge, beinahe spöttisch wirkende Baumeln des Seilendes neben ihnen bezeugte, dass sich über ihnen jemand befand.
    Und erst jetzt, auf geradezu lächerliche Weise verspätet, erinnerte sich Kevin an Pauls geschwächten Zustand. Er dachte daran, wie er ihn nur zwei Wochen zuvor eilig ins Krankenhaus gebracht hatte, nach jenem Basketballspiel, an dem Paul gar nicht hätte teilnehmen dürfen, und bei diesem Gedanken zog sich ihm das Herz in der Brust zusammen. Unfähig, die Anspannung des Hinaufschauens länger zu ertragen, wandte er sich stattdessen dem baumelnden Seil neben sich zu. Solange sich an diesem gravitätischen Tanz nichts änderte, war mit Paul alles in Ordnung. Die Bewegung des Taus bedeutete Leben, Fortbestand. Kevin konzentrierte sich mit aller Kraft auf das Hin- und Herschwingen des Seils vor der dunklen Felswand. Er betete nicht, aber er dachte an seinen Vater, was beinahe das gleiche bedeutete.
    Er fixierte immer noch mit starrem Blick das Seil, als Erron schließlich seinen Arm berührte und nach oben zeigte. Und als er der Bewegung folgte, war es Kevin endlich wieder möglich, befreit aufzuatmen, denn er konnte die schmale, wohlbekannte Gestalt erkennen, die zu ihnen herabglitt. Kurz darauf war Paul Schafer unten angelangt, geschickt kam er auf, wenn auch schwer atmend. Sein Blick traf einen Augenblick lang den von Kevin, dann wandte er sich ab. Er zog selbst dreimal am Seil, ehe er sich ein Stück das Ufer entlang entfernte, um sich mit geschlossenen Augen an den Fels zu lehnen.
    Einige Zeit später standen sie zu neunt gischtdurchnäßt am Flussufer. Diarmuids Augen glänzten im Licht, das vom Wasser reflektiert wurde; er wirkte wild und entrückt, ein entfesselter Nachtgeist. Und er signalisierte Coll, das nächste Stadium ihrer Überquerung in Angriff zu nehmen.
    Der hochgewachsene Mann war mit einem weiteren Seil in dem Bündel auf seinem breiten Rücken herabgestiegen. Nun griff er nach seinem Bogen, zog aus dem Köcher einen Pfeil und befestigte das Seil an einem eisernen Ring, der

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