Silbermantel
Gespräch stattgefunden, seit er fort war. Auf Kims erste unsichere Fragen hin hatte die Seherin nur mit einem sanften Lächeln und einer Ermahnung geantwortet. »Geduld, Kind. Es gibt Dinge, die der Zeit des Redens vorangehen müssen. Zuallererst ist da eine Blume, die wir benötigen. Komm mit mir, wir wollen sehen, ob wir für heute Nacht eine Bannblume finden.«
Und so kam es, dass Kim durch den Schatten und das Licht unter den Bäumen ging, während sich in ihrem Kopf die Fragen überstürzten. Blaugrün sei die Blume, hatte Ysanne zu ihr gesagt, und in der Mitte rot wie ein Blutstropfen.
Vor ihr stieg die Seherin leichtfüßig und sicher über Wurzelwerk und gefallene Äste. Im Wald wirkte sie jünger als in Ailells Thronsaal, und hier trug sie auch keinen Stab, um sich zu stützen. Was eine weitere Frage auslöste, und diese ließ sich nicht zurückhalten.
»Spürt Ihr die Dürre, so wie ich?«
Darauf blieb Ysanne stehen und betrachtete Kim einen Augenblick lang mit ihren leuchtenden Augen im zerfurchten, faltigen Gesicht. Sie wandte sich jedoch wieder ab und setzte ihren Weg fort, wobei sie den Boden zu beiden Seiten des gewundenen Pfades absuchte. Als ihre Antwort kam, war Kim nicht darauf vorbereitet.
»Nicht auf die gleiche Weise. Sie ermüdet mich, und ich habe ein Gefühl der Bedrückung. Aber ich fühle nicht wie du echten Schmerz. Ich kann – dort!« Und schnell verließ sie den Pfad und kniete sich auf den Waldboden.
Das Rot in der Mitte der Bannblume sah vor dem Seegrün der Blütenblätter tatsächlich aus wie Blut.
»Ich wusste, dass wir heute eine finden würden«, erklärte Ysanne, und ihre Stimme wirkte rau. »Es ist Jahre her, so viele, viele Jahre.« Sorgsam löste sie die Blume aus der Erde und erhob sich wieder. »Komm, Kind, wir bringen dies nach Hause. Und ich werde versuchen, dir zu erzählen, was du wissen musst.«
»Warum habt Ihr gesagt, Ihr hättet auf mich gewartet.« Sie saßen im Wohnraum von Ysannes Hütte, in Sesseln am Kamin. Später Nachmittag. Durch das Fenster konnte Kim die Gestalt des Dieners Tyrth erkennen, der dabei war, den Zaun hinter der Hütte auszubessern. Im Hof scharrten und pickten ein paar Hühner, und an einen Pfahl war eine Ziege angebunden. An den Wänden des Zimmers waren Borde befestigt, auf denen in beschrifteten Topfen Pflanzen und Kräuter in erstaunlicher Vielfalt standen, darunter manche mit Namen, die Kim nicht kannte. Es gab nur wenige Möbel: die beiden Stühle, einen großen Tisch, ein schmales, ordentliches Bett in einer Nische an der Rückseite des Raums.
Ysanne nahm einen Schluck von ihrem Getränk, ehe sie antwortete. Sie tranken etwas, das wie Kamille schmeckte.
»Ich habe dich geträumt«, eröffnete ihr die Seherin nach einer Weile. »Viele Male. Das ist meine Art, die Dinge zu sehen, die ich sehen kann. Diese Träume sind in letzter Zeit seltener geworden und verschwommener. Du warst jedoch deutlich zu sehen, deine Haare und Augen. Ich habe dein Gesicht gesehen.«
»Aber warum? Was bin ich, dass Ihr von mir träumen solltet?« »Die Antwort darauf kennst du bereits. Vom Übergang her. Vom Schmerz des Landes, der auch der deine ist, Kind. Du bist eine Seherin, wie ich es bin, und eine stärkere, glaube ich, als ich es je war.« Plötzlich fröstelnd inmitten des heißen, trockenen Sommers wandte Kim den Kopf ab.
»Aber«, warf sie mit zaghafter Stimme ein, »aber ich bin so unwissend.«
»Deshalb muss ich dich lehren, was ich weiß. Darum bist du hier.«
Im Raum entstand ein bedeutungsvolles Schweigen. Die beiden Frauen, die eine alt, die andere jünger, als ihr Aussehen vermuten ließ, blickten einander an mit gleichermaßen grauen Augen unter dem weißen Haar wie unter dem braunen, und ein Windhauch vom See her berührte sie beide. »Herrin.« Die Stimme durchbrach die Stille. Kim wandte sich um und erblickte Tyrth am Fenster. Dichtes schwarzes Haar und ein Vollbart umrahmten Augen, die so dunkel waren, dass sie ebenfalls beinahe schwarz wirkten. Er war kein großer Mann, aber die Arme, die er auf das Fensterbrett gestützt hatte, waren muskulös und von der Arbeit im Freien tiefbraun gebrannt.
Ysanne, die nicht erschrocken war, drehte sich nach ihm um. »Ja, Tyrth, ich wollte schon nach dir rufen. Kannst du mir ein weiteres Bett herrichten? Wir haben heute Nacht einen Gast. Dies ist Kimberly, die vor zwei Nächten mit Loren angekommen ist.«
Tyrth begegnete ihrem Blick nur einen Augenblick lang, dann fuhr er sich mit
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