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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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neben Diarmuid herlief, spürte Kevin, wie ihm plötzlich das Herz weit wurde vor wilder Freude. Und sie hielt vor, verstärkte sich gar noch, bis sie, erst gebückt, dann kriechend, den Rand der Klippe erreicht hatten und hinabstarrten.
    Saeren war der mächtigste Strom westlich der Berge. Es war ein überwältigender Anblick, wie er von den hohen Gipfeln Eridus zu Tal stürzte und dann in die westliche Tiefebene hinabdonnerte. Dort wäre er zur Ruhe gekommen, hätte sich zu winden begonnen, wenn nicht Jahrtausende zuvor, im Frühstadium der Welt, eine Naturkatastrophe das Land zerrissen hätte, ein Erdbeben, das einen Spalt wie eine Wunde am Firmament hinterlassen hatte: die Saerenschlucht. Durch diesen Abgrund toste der Fluss und trennte Brennin, das die wütende Erde emporgehoben hatte, vom tiefergelegenen, fruchtbaren Cathal im Süden. Und der große Saeren wich von seinem Kurs nicht ab, noch ließ er in seiner Wucht nach, und auch ein trockener Sommer im Norden konnte seine Kraft nicht mindern. Sechzig Meter unter ihnen brodelte der Fluss, glitzerte furchteinflößend und entsetzlich im Mondlicht. Und zwischen ihnen und dem Strom erwartete sie bei völliger Dunkelheit der Abstieg über eine unvorstellbar steile Klippe.
    »Wenn ihr fällt«, hatte Diarmuid allen Ernstes gewarnt, »dann versucht, nicht zu schreien. Ihr könntet die anderen verraten.«
    Nun konnte Kevin die gegenüberliegende Seite der Schlucht erkennen, und am südlichen Abhang, weit tiefer gelegen als ihr Standort, befanden sich die Leuchtfeuer und Garnisonen Cathals, jene Vorposten, die das Herrscherhaus und die Gärten vor dem Norden beschützten.
    Kevins Stimme zitterte, als er einen Fluch ausstieß. »Ich kann das nicht glauben. Wovor haben sie Angst? Hier kommt doch niemand hinüber.«
    »Es ist ein kühner Sprung«, stimmte ihm Coll zu seiner Rechten zu. »Aber es heißt, vor Hunderten von Jahren sei es schon einmal gelungen, nur ein einziges Mal, und das ist der Grund, warum wir es jetzt versuchen.«
    »Nur so zum Spaß, was?« hauchte Kevin, immer noch ungläubig. »Was ist los? Findet ihr Backgammon langweilig?«
    »Was?« »Ach, nichts.«
    Und dann gab es wirklich kaum mehr Gelegenheit zur Unterhaltung, denn Diarmuid, der sich weiter rechts befand, sagte leise etwas, und Erron, schlank und gelenkig, trat rasch zu einem großen, knorrigen Baum, den Kevin bisher übersehen hatte, und schlang mit großer Sorgfalt ein Seil um seinen Stamm. Dann ließ er den Strick in den Abgrund hinab. Als die Seilwindung drunten im Dunkel verschwunden war, feuchtete er sich bedächtig die Handflächen an und warf Diarmuid einen raschen Blick zu. Der Prinz nickte. Erron nahm das Seil fest in den Griff, trat vor und verschwand über den Rand der Klippe.
    Wie erstarrt beobachteten sie alle das gespannte Seilstück, Coll ging hinüber zu dem Baum, um den Knoten zu prüfen. Während die Augenblicke langsam verstrichen, wurde sich Kevin bewusst, dass seine Hände schweißfeucht waren. Er wischte sie verstohlen an den Hosenbeinen ab. Dann sah er, wie Paul Schafer ihn über das Seil hinweg anschaute. Es war dunkel, und er konnte Pauls Züge nicht klar erkennen, aber etwas in seinem Gesicht, etwas Abwesendes, Seltsames, löste in Kevins Brust kalte Furcht aus und ließ erbarmungslos die Erinnerung aufsteigen, der er nie ganz entfliehen konnte, an jene Nacht, als Rachel Kincaid gestorben war.
    Er selbst erinnerte sich an Rachel, erinnerte sich ihrer mit einer ganz eigenen Art Liebe, denn es war schwer gefallen, das dunkelhaarige Mädchen mit der scheuen Grazie eines präraffaelitischen Gemäldes nicht zu lieben, dem nur zwei Dinge auf der Welt Leidenschaft entlockten: die Klänge eines Cello unter ihrem Bogen und die Gegenwart von Paul Schafer. Kevin hatte gesehen, und es hatte ihm den Atem geraubt, welcher Blick in ihre Augen trat, wenn Paul ins Zimmer kam, und er hatte auch das zögernde Aufblühen von Vertrauen und Verlangen in seinem stolzen Freund beobachtet. Bis alles zerbrach und er, mit Tränen der Hilflosigkeit in den eigenen Augen, zusammen mit Paul in der Notaufnahme des St.- Michael-Krankenhauses stand und sie die Todesnachricht entgegennahmen. Als Paul Schafer, das Gesicht eine tränenlose Maske, die einzigen Worte gesprochen hatte, die er jemals über Rachels Tod verlieren sollte. »Ich hätte an ihrer Stelle sein müssen«, hatte er gesagt und ganz allein den allzu hellen Raum verlassen.
    Nun aber sprach ihn, in der Dunkelheit einer fremden Welt,

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