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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Raederth mich gesehen, und er hat ein anderes Schicksal für mich bestimmt.«
    »Wie Ihr für mich?«
    »Wie ich für dich. Er erkannte mich als Seherin, und er nahm mich der Mutter und lenkte mein Schicksal in andere Bahnen, ja, fand für mich die richtigen Bahnen.«
    »Und Ihr habt ihn geliebt?« »Ja«, sagte Ysanne gerade heraus. »Vom ersten Augenblick an, und ich vermisse ihn immer noch, auch wenn die Jahre für uns verronnen sind. Im Hochsommer, vor mehr als fünfzig Jahren, hat er mich hierhergebracht und Eilathen gerufen mit Hilfe des Blumenfeuers, und der Geist hat das Garn für mich gesponnen, wie er es gestern Abend für dich getan hat.«
    »Und Raederth?« fragte Kim kurz darauf. »Er starb drei Jahre später durch einen Pfeil, den abzuschießen Garmisch, der Großkönig, befohlen hatte«, gab ihr Ysanne mit tonloser Stimme Bescheid. »Als Raederth ermordet wurde, erhob sich in Rhoden Herzog Ailell und begann jenen Krieg, der Garmischs und der Garantae Herrschaft ein Ende machte und ihm Zugang zum Thron verschaffte.«
    Wieder nickte Kimberly. »Auch das habe ich gesehen. Ich habe gesehen, wie er den König vor den Toren des Palastes getötet hat. Er war tapfer und kühn, dieser Ailell.«
    »Und weise. Ein weiser König, zeit seines Lebens. Er freite Marrien vom Geschlecht der Garantae und ernannte Metran, ihren Vetter, in der Nachfolge Raederths zum Ersten Magier, was mich damals erzürnt hat, worüber ich auch mit ihm gesprochen habe. Aber Ailell wollte lediglich versuchen, ein entzweites Königreich wieder zu vereinen, und das gelang ihm auch. Er hat mehr Liebe verdient, als ihm zuteil wurde.«
    »Eure Liebe ist ihm zuteil geworden.« »Sehr spät«, schränkte Ysanne ein, »und nur widerwillig. Und nur in seiner Eigenschaft als König. Dennoch habe ich versucht, ihm einen Teil seiner Last abzunehmen, und er hat sich erkenntlich gezeigt, indem er dafür sorgte, dass man mich hier in Ruhe ließ.«
    »In Ruhe und allein, und das sehr lange«, ergänzte Kim leise.
    »Jeder von uns hat seine Aufgabe«, sagte die Seherin. Dann herrschte Stille. Hinten im Stall blökte kläglich eine Kuh. Kim hörte das Klicken, mit dem das Tor geschlossen wurde, dann Thyrts ungleichmäßige Schritte, als er den Hof überquerte. Ihre Blicke kreuzten sich mit denen Ysannes, und ein angedeutetes Lächeln ließ ihre Mundwinkel zucken.
    »In einer Hinsicht habt Ihr mich gestern belogen«, begann sie von neuem.
    Ysanne nickte. »Ja. Aber nur in einer. Es war nicht an mir, dir die Wahrheit zu verraten.«
    »Ich weiß«, sagte Kim. »Ihr habt ganz allein eine große Last auf Euch genommen. Doch nun bin ich hier; wollt Ihr Eure Bürde mit mir teilen?« Sie verzog den Mund. »Es hat den Anschein, als sei ich ein leerer Kelch. Wie sieht die Macht aus, mit der Ihr mich füllen könnt?«
    In den Augen der alten Frau hing eine Träne. Sie wischte sie fort und schüttelte den Kopf. »Was ich dich lehren kann, hat mit Macht wenig zu tun. In deinen Träumen musst du dich nun bewegen lernen, wie alle Seherinnen. Und dein ist obendrein der Stein.«
    Kim blickte darauf hinab. Der Ring an ihrer rechten Hand hatte aufgehört zu glänzen, wie er es getan hatte, als Eilathen ihn noch trug. Er glühte bloß, tief und düster, wie altes Blut.
    »Davon habe ich tatsächlich geträumt«, erinnerte sie sich. »Ein Alptraum, während der Nacht vor unserem Übergang. Was hat es mit ihm auf sich, Ysanne?«
    »Man hat ihn Baelrath genannt, vor langer Zeit, den Kriegsstein. Er gehört zum Bereich der ungezügelten Magie«, erzählte die Seherin, »kein Werk des Menschen, und er lässt sich nicht steuern wie der Zauber Ginserats oder Amairgens oder gar der Priesterinnen. Man hielt ihn lange Zeit für verloren, was nicht weiter ungewöhnlich ist. Aber noch nie wurde er gefunden, ohne dass es einen Grund dafür gegeben hätte, heißt es zumindest in den alten Sagen.«
    Während sie miteinander sprachen, war es draußen dunkel geworden. »Warum habt Ihr ihn mir gegeben?« fragte Kim mit kläglicher Stimme.
    »Weil auch ich geträumt habe, er stecke an deinem Finger.« Diese Antwort hatte sie irgendwie bereits erahnt. Der Ring pulsierte unheilvoll, feindselig, und sie fürchtete sich vor ihm.
    »Was habe ich damit gemacht?« wollte sie wissen. »Die Toten wieder zum Leben erweckt«, erwiderte Ysanne und stand auf, um im Raum die Kerzen zu entzünden.
    Kim schloss die Augen. Die Bilder warteten nur auf sie: der Steinhaufen, die weite Steppe, die sich in der

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