Silbermantel
werde ich das tun.« Sie hob die Stimme, so dass ihre Worte durch die Gasse hallten und die Leute sich nach ihr umdrehten. Mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Fingern intonierte sie: »Im Namen Gwen Ystrats und der Mormae, welche der Mutter geweiht sind, ernenne ich Euch zum Gast der Göttin. Ihr seid in unseren Heiligtümern willkommen, und für Euer Wohlergehen will ich persönlich Sorge tragen.«
Jennifer blickte fragend zu Drance hinüber. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als ermutigend; wenn möglich, wirkte er sogar noch bestürzter als zuvor. Jennifer hatte keine Ahnung, ob sie richtig oder falsch gehandelt hatte, wusste nicht einmal so recht, was sie da gemacht hatte, aber sie war es leid, weiter mitten auf der Straße zu stehen, während jedermann sie beobachtete.
»Ich danke Euch«, sagte sie zu Jaelle. »In diesem Fall werde ich mit Euch kommen. Wenn ihr wollt«, fügte sie an Drance und Laesha gewandt hinzu, die soeben mit ihren neuen Handschuhen und furchtsamem Blick herangeeilt war, »dann könnt ihr beide draußen auf mich warten.«
»Dann kommt«, forderte sie Jaelle auf und lächelte.
Es handelte sich um ein niedriges Gebäude, und selbst die zentrale Kuppel war dem Erdboden scheinbar viel zu nahe, bis Jennifer durch den Torbogen trat und ihr klar wurde, dass es größtenteils unter der Erde angelegt war.
Der Tempel der Muttergöttin lag östlich der Stadt auf dem Palasthügel. Ein enger Pfad wand sich dahinter die Anhöhe hinauf und führte an eine Pforte in den Mauern, welche die Gärten des Palastes umgaben. Den Pfad entlang standen Bäume. Sie schienen langsam abzusterben.
Sobald sie im Innern des Heiligtums angelangt waren, verschmolzen die graugewandeten Dienerinnen mit den Schatten, während Jaelle Jennifer durch einen weiteren Torbogen geleitete. Er führte in den Saal unterhalb der Kuppel. Auf der gegenüberliegenden Seite des halb in die Erde eingelassenen Gewölbes sah Jennifer einen gewaltigen schwarzen Altarstein. Dahinter lehnte an einem geschnitzten Holzblock aufrecht eine Doppelaxt, deren Schneiden geformt waren wie eine Mondsichel, die eine zu-, die andere abnehmend.
Sonst war der Saal leer. Es erschien Jennifer unverständlich, dass ihr der Mund auszutrocknen begann. Während sie die Axt mit ihren heimtückisch geschärften Klingen betrachtete, kämpfte sie gegen ein Schaudern an.
»Kämpft nicht dagegen an«, rief Jaelle ihr zu, und ihre Stimme hallte durch das leere Gewölbe. »Dies ist Eure Macht. Unsere. So war es einst, und so wird es wieder sein. Noch in der Gegenwart, wenn sie uns für würdig befindet.«
Jennifer starrte ihr ins Gesicht. Die Hohepriesterin mit ihrem Flammenhaar wirkte im Innern ihres Heiligtums noch schöner als je zuvor. Ihre Augen leuchteten mit einer Intensität, die wegen ihrer Kälte umso beunruhigender war. Von Macht und von Stolz kündeten sie, nicht von Sanftmut und nicht länger von ihrer Jugend. Jennifer warf einen Blick auf Jaelles schlanke Finger und fragte sich, ob sie wohl je nach dieser Axt gegriffen hatten, ob sie sie je auf den Altar hatten niedersausen lassen, herab auf… Und dann wurde ihr klar, dass sie sich an einer Opferstätte befand.
Jaelle drehte sich ohne jede Hast um. »Ich wollte, dass Ihr dies seht«, sagte sie. »Nun kommt. Meine Gemächer sind kühl, wir können etwas trinken und miteinander sprechen.« Mit ihrer anmutigen Hand ordnete sie den Kragen ihrer Robe und ging vor Jennifer her aus dem Saal. Während sie ihn verließen, hatte es den Anschein, als gleite ein Luftzug durch das Gewölbe, und Jennifer glaubte, sie habe die Axt auf ihrem Gestell ganz leise schwanken sehen.
»Demnach«, bemerkte die Priesterin, als sie sich in ihrem Zimmer auf Kissen niederließen, die auf dem Fußboden verstreut lagen, »haben Eure so genannten Freunde Euch verlassen, um ihren persönlichen Vergnügungen nachzugehen.« Eine Frage war das nicht.
Jennifer blinzelte. »Nicht besonders anständig«, begann sie und fragte sich, woher die andere Frau davon wusste. »Man könnte allerdings ebenso gut sagen, ich hätte sie verlassen, um hierherzukommen.« Sie versuchte es mit einem Lächeln.
»Das könnte man«, stimmte Jaelle liebenswürdig zu, »aber es würde nicht der Wahrheit entsprechen. Die beiden Männer sind bei Morgengrauen mit dem Prinzlein davongeritten, und Eure Freundin ist zu dem hässlichen alten Weib am See durchgebrannt.« Mitten im letzten Satz hatte sie ihre Stimme sozusagen in Säure getaucht,
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