Silbermuschel
formte mir eine Mulde in seiner Brust für meine Stirn.
»Hilf mir! Der Teufel kommt! Ich fühle ihn. Er steht an der Wand. Siehst du ihn nicht? Da, der schwarze Fleck!«
»Doch. Sei ruhig, Liebste. Ich bin bei dir. Ich beschütze dich. Nun sag, was ist denn so Schlimmes auf dieser Kassette?«
Er sprach gelassen, fast leichthin. Ich wagte mich kaum einen Millimeter zu bewegen, aus lauter Panik, ihn nicht mehr zu spüren. Endlich fing ich wieder an zu sprechen, die Lippen an sein Herz gedrückt. Meine eigene Stimme klang wie die einer Fremden, so rauh und schwach.
»Man sieht, wie ich es mache.« Dann Stille. Etwas war geschehen.
Ich spürte seine plötzliche Wachsamkeit. Und ich spürte noch etwas anderes: ein ganz langsames Erschauern auf seiner Haut, ein Zusammenziehen der Poren.
Alle Kraft zog sich aus mir zurück. Ein Schatten löste sich aus der Wand, hochaufragend, eine lebende Dunkelheit. »Sieh nur, da bin ich wieder! Darf ich hereinkommen? Ich an deiner Stelle würde den Mund halten. Verrücktheit würde alles erklären, meine Süße, aber so einfach ist es nicht. Jetzt hat er noch eine hohe Meinung von dir, aber warte nur ab. Kein Mann, der einen Funken Ehrgefühl im Leib hat, erträgt das ohne zu kotzen.« Ich hielt mir die Ohren zu. Ich schrie. »Ich will weg von hier!«
»Nein. Du mußt mir jetzt alles sagen.«
Er schloß mich in seine Arme, wie in eine warme, schützende Decke, als ob er mir seine Kraft geben, mit mir verschmelzen wollte. Er sprach zu mir ganz leise, Stirn gegen Stirn.
»Etwas ist in dir. Ein Stachel, der dich vergiftet. Die Wunde ist entzündet, 215
schon jahrelang. Du wirst jetzt diesen Stachel herausziehen. Ich weiß, es wird dir weh tun. Aber ich helfe dir.«
»Ich kann nicht!«
»Du wirst es tun. Jetzt. Ich will es so!« Meine Zähne schlugen aufeinander. Mir war kalt, so entsetzlich kalt.
»Der Teufel… der Teufel ist wieder da.«
»Ja. Schau ihn nicht an. Hab keine Angst. Er tut dir nichts. Ich halte ihn von dir fern.«
Er preßte mich an sich, schirmte mich mit seinem Körper ab, legte mir die Hand auf die Augen. Ein Krampf überkam mich, so stark, daß er uns beide schüttelte. Das namenlose innere Etwas, das seit jeher in mir lauerte und manchmal hinausstarrte, schwebte ganz dicht hinter dem Rand der Erinnerung, wuchs langsam in die Höhe. Ich schluchzte, ich schrie, es war unerträglich… einfach unerträglich. Und da! Eine schwarze Welle quoll aus tiefen Gewölben meines Denkens, wirbelte mich wie eine Feder im Kreis, zog mich in einem betäubenden Sog der Finsternis entgegen. In einer Sturzflut glitt ich tiefer und immer tiefer, durch Raum und Zeit. Ein Laut drang aus meinen Lippen. Ein undeutliches Gemurmel. Ein Wort, das alles erklärte. Hilf mir! Da ist ein schwarzes Loch, wo dieses Wort sein sollte. Aber du kennst das Wort, du kennst es besser als ich. Einst entstand es vor deinen Augen, mein Geliebter, auf weißem Papier, in wunderschöner, vollendeter Pinselschrift.
»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Kenchan. Wenn ich Glück habe, noch ein paar Jahre. Höre und vergiß es nie, und ich will dir ein Geheimnis sagen. Nur gutartige Dinge sollen gemalt oder geschrieben werden, denn alles, was wir darstellen, wird lebendig. Wir sind alle schuldig oder unschuldig.«
Ich werde verrückt. Nein, ich bin wieder stark. Ich will mich erinnern. Warum weinst du? Warum weine ich? Ich erfriere, nein, ich verbrenne. Du verbrennst mit mir. Wir gehen zusammen in Flammen auf. Sieh nur, ich bin ein Stück deiner Haut, ich atme mit dir, ich wachse mit dir zusammen. Ich sehne mich so danach, in deinem Körper zu leben. Und ich werde keine Angst mehr haben vor der Zeit, die vergeht. Meine Lippen öffnen und schließen sich wieder. Ich muß eine Erinnerung ans Tageslicht holen. Warte noch einen Augenblick, sie kommt. Es wird ein bißchen weh tun.
Mein Bewußtsein erfaßte ein Wort, ehe es sich in Dunkelheit auflöste. Ich hörte, wie ich einen Namen rief. Es war nicht dein Name, nein. Es war nicht einmal der Name eines Menschen. Es war der Name eines Baumes. Und ich schrie ihn in japanischer Sprache: »Kurino-ki!«
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16. KAPITEL
I ch hatte das Wort gesagt, das Wort, das ich nicht sagen durfte. Kurino-Ki. Der Kastanienbaum. Das Wort war ein Schlüssel: Die Tür sprang auf. Unschuldig lächelnd trat das kleine Mädchen hervor. Ihre wachen Augen blickten in vergangene Zeiten; sie suchte den Punkt, an dem die weite Welt ihres gegenwärtigen Bewußtseins begonnen hatte.
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