Silbermuschel
Vielleicht genau dort im Garten, wo einst der Kastanienbaum stand.
Das kleine Mädchen kannte ich gut – sie und ich waren in einer Haut. Doch jetzt, wo ich zurück zu den Schatten ging, war sie nur eine Spiegelung aus einer anderen Welt. Nicht nur das Entsetzen hinter dem Alltäglichen, die Widrigkeit des Hasses, nicht nur Gewalttätigkeit, Angst und Schmerz waren in diesem Abbild vorhanden; in meiner Erinnerung war auch der unversehrte Stolz der Kindheit, ein Glanz, bevor die Welt sich im Herannahen des Schreckens verdunkelte. Eine kleine Weile noch, und der Schmerz würde erwachen; ich mußte ihn hinnehmen und erdulden, obwohl er unerträglich war. Doch ich würde die Hände nach dir ausstrecken. Komm, mach mich stark! Die Liebe wandert auf allen Pfaden. Auch tief hinein in die Finsternis.
Meine Mutter sagte, der Kastanienbaum wäre fast hundert Jahre alt. Er hatte sich über einem anderen, älteren Baum entwickelt. Irgendwann, vor vielen Jahrzehnten, war dieser Baum abgestorben. Nur ein Stumpf war stehengeblieben, noch geheimes Leben in sich bergend; im Frühling zeigten sich zarte grüne Knospen auf den uralten Wurzeln, die sich glatt und stark aus dem Boden wölbten.
Wie alt dieser Baumrest war, wußte keiner. Der Kastanienbaum aber war stark und voller Leben. Ein breiter, wilder Stamm, rötlich bei sinkender Sonne. Das dichte Laub sang eine grüne Melodie am blauen Himmel, wurde bei Regen zu einer rauschenden Welt voll sprühender Wasserperlen. Weißrosa Blütentrauben entfalteten sich im Frühling, schaukelten schwer und üppig im warmen Wind. Im Herbst fielen stachelige Kugeln von den Zweigen, warfen aufplatzend ihr tropfenförmiges Zwillingsherz ins Gras. Manchmal, wenn ich selbstvergessen im grünen Schatten stand, war mir, als ob mein Körper sich weitete und ich selbst zu diesem Baum wurde. Süßer grüner Saft wanderte durch meine Adern, ich fühlte, wie sich meine Wurzeln in der warmen, trockenen Erde ausdehnten, wie sie durch Sand und Steine das Grundwasser suchten. Meine Zweige saugten den Regen ein, jedes Blatt wurde zu einer Pore auf meiner Haut. Regungslos lehnte ich an dem Stamm, schmiegte mich in den grünen Schatten. Ich streichelte die schuppige Borke, fühlte unter meinen Händen ein fernes, sanftes Klopfen, tap, tap, wie ein Herzschlag. Und ich wußte nicht, war es mein Herz oder das mächtige, verborgene Baumherz, das tief in meinem Körper pulsierte.
»Julie verbringt Stunden im Garten, statt zu lernen oder im Haushalt zu helfen«, sagte meine Mutter. »Was soll nur aus ihr werden?«
217
Immer, wenn ich zu lange im Garten blieb, beugte sie sich aus dem Fenster und rief nach mir.
»Julie… Was stehst du da und träumst? Komm ins Haus!«
Mein Vater war Professor für Geschichte an der Hochschule. Er war ein bedeutender Mann. Die Leute grüßten ihn auf der Straße. Meistens kam er früh nach Hause. Er arbeitete in seinem Zimmer oder saß neben dem Kamin, rauchte starke Zigaretten und las. Er hatte immer ein Buch oder die Zeitung in der Hand.
Wenn ich aus dem Garten kam und durch das Wohnzimmer in die Küche ging, mußte ich an meinem Vater vorbei. Meistens saß er in seinem Sessel und rührte sich nicht. Doch manchmal hob er die blaßblauen Augen, betrachtete mich mit unbewegtem Gesicht.
»Du bist schmutzig«, sagte er dann mit tiefer, wohlklingender Stimme. »Geh und wasch dir die Hände.«
Ich hielt ihm meine Handflächen hin.
»Aber ich habe sie doch gerade erst gewaschen! «
»Tu mir den Gefallen, und wasche sie noch einmal«, sagte mein Vater.
Warum sagte er immer, daß ich schmutzig wäre? Ich badete jeden Samstag und ging nie mit ungewaschenen Füßen zu Bett.
Ganz in der Nähe wurde die Autobahn gebaut. Sie kroch uns entgegen, wie eine Riesenschnecke, unmerklich, aber beharrlich zog sie ihre Spur durch die Landschaft. Schon morgens um sieben rasselten die Bagger, dampften die Teermaschinen; Lastwagen voller Schutt donnerten an unserem Haus vorbei, und jedesmal klirrten die Scheiben. Bald – in einigen Jahren – würde die efeubewachsene Mauer abgerissen, die Autobahn mitten durch unser Grundstück gezogen werden: knappe sechs Meter von unserem Haus entfernt. Der Lärm sei durchaus erträglich, meinte mein Vater, nach einiger Zeit würde man ihn nicht mehr hören. Er hatte längst alle Papiere unterschrieben und mit dem Geld seine Schulden bezahlt.
Ich schlief bei offenem Fenster. Manchmal dröhnten die Bagger, wenn mit Nachtschicht gearbeitet wurde, aber meistens
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