Silbermuschel
hörte ich nur die Blätter rauschen.
Ssssss! Schlaf gut! sagte der Baum, der damals noch keinen Namen hatte, der einfach nur der Baum war. Ich schlief traumlos und glücklich. Der Baum bewachte mich. Und auch die Gegenstände in meinem Zimmer: die Kommode, der Spiegelschrank, die kleine Vase aus blauem Porzellan. Jeden Abend, bevor ich ins Bett ging, strich ich mit der Handfläche über alle vertrauten Dinge und sagte ihnen gute Nacht. Mir konnte nichts Böses geschehen.
Die Zeit ist ein Strom; ich kehre an die Quellen zurück. Wie alt bin ich?
Sieben? Acht? Ich sitze unter dem Baum im Gras, mit hochgezogenen Knien.
Meine Hand zieht an den Halmen, die sanft und elastisch nachgeben. Seltsam ist dieser Eindruck, daß alles zusammengehört: das Gras, der schattige Baum, die Blumen mit ihrem Blütenstaub, die kleinen Insekten, die laut zwitschernden Vögel 218
und ich. Als ob die Pflanzen, die Tiere und die Menschen, ja, sogar die Kieselsteine und die Erdkrümel ineinander verwoben wären zu einem einzigen Muster. Wie lange kauere ich schon da? Ich weiß es nicht. Ich spüre, daß ich Dinge begreife, die sich nicht erklären lassen, wenigstens nicht mit den Worten eines kleinen Mädchens. Ich bin weder glücklich noch unglücklich darüber, es ist einfach so.
Ich blicke zum Haus hinüber und sehe meinen Vater aus der Tür treten.
Langsam kommt er auf mich zu. Hinter ihm leuchtet die Abendsonne. Da ich am Boden hocke, wirkt er riesengroß. Im Gegenlicht sehe ich nur seine dunkle Gestalt, das aschfarbene Haar, die blaublitzenden Augen. Er bleibt vor mir stehen. Ich blinzele zu ihm empor. Ich trage ein Hemdchen mit schmalen Trägern, einen kurzen Rock, einen Baumwollslip, Turnschuhe. Vor zwei Tagen bin ich gefallen, und auf meinem Knie hat sich eine blutige Kruste gebildet.
Mein Vater sagt: »Steh auf! Schämst du dich nicht? Man sieht ja zwischen deine Beine.«
Ich stehe verlegen auf. Ich weiß nicht, warum ich mich schämen soll. Ich weiß auch nicht, ob mein Vater zornig ist oder nicht. Er steht im Gegenlicht; sein Gesicht liegt im Dunkeln. Nur die blauen Augen leuchten, und sein Duft weht zu mir herüber: Habanita von Molinard. Plötzlich legt er mir die Hand auf die Schulter. Er lächelt mich an, also ist er mir nicht böse.
»Was sitzt du da und träumst?« fragt er.
Ich kichere wie ein Mädchen, winde mich unter seinem Griff.
Er öffnet die Hand; seine gespreizten Finger wandern tiefer. Die Sonne blendet mich; ich sehe etwas Seltsames, etwas wie eine große Spinne, die über meine Brust kriecht. Ich bin nicht erschrocken, nein; es ist die Hand meines Vaters. Sein Zeigefinger dringt langsam in den Ausschnitt meines Hemdes, erreicht die Stelle, wo das Herz schlägt. Seine Fingerkuppe bewegt sich leicht hin und her, findet, was er sucht, drückt ein paarmal auf die winzige rosa Warze. Ich fühle, wie sie sich unter seinem Finger zu einem Kügelchen verhärtet. Wieder setzt sich sein Finger in Bewegung, wandert auf die andere Brustseite. Wie sonderbar! Die kleine Warze wird hart, noch bevor er sie anrührt. Mein Vater rubbelt sie mit der Fingerkuppe, viel fester als die andere. Sein Nagel dringt in meine Haut ein. Ich zucke zusammen. Er zieht sofort seine Hand zurück.
»Tut es weh?«
Ich schüttele den Kopf.
»Nein.«
»Geh ins Haus«, sagt mein Vater.
Ich habe nicht ganz die Wahrheit gesagt: es tut doch etwas weh.
Ich erfinde ein Spiel: Ich blicke zum Baum empor, präge mir jeden Ast, jeden Zweig, die Form jedes Blattes ein. Dann versuche ich, mich an das Gesehene mit geschlossenen Augen zu erinnern, bis der vollständige Baum in meinem 219
Gedächtnis entsteht. Am Anfang ist es entsetzlich schwierig. Ich entsinne mich an einen Ast, an ein paar Blätter, die im Wind schaukeln – das ist alles. Aber ich bin geduldig, ich lasse nicht locker. Nach und nach gelingt es mir, mein Gedächtnis zu schärfen. Wie lange es dauert, weiß ich nicht. Aber es kommt eine Zeit, da habe ich den Eindruck, daß ich es schaffe. Daß ich den Baum – für die Dauer einiger Atemzüge – vollständig in meiner Erinnerung habe. Eine perfekte Wiedergabe, in meine Netzhaut eingeprägt. Ich setze das Spiel fort, indem ich mich an die Flugbahn der Vögel zu erinnern versuche, wenn sie von der Baumkrone auffliegen.
Dieses neue Spiel ist noch komplizierter, weil sich die Vögel ja ständig bewegen.
Aber irgendwie bringe ich es fertig, daß ich mich genau an den Bogen des aufschwirrenden Vogels erinnere, bevor er aus meinem
Weitere Kostenlose Bücher