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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Blickfeld verschwindet.
    Am spannendsten wird es, wenn ein ganzer Schwarm auffliegt. Dann muß ich blitzschnell alles im Kopf haben, mich an den richtigen Winkel, an die richtige Geschwindigkeit erinnern. Im Bruchteil eines Atemzugs muß ich mich entsinnen, von welchem Ast, von welchem Zweig jeder Vogel aufgeflogen ist. Dann die Augen schließen; alles im Kopf wiederholen. Das Spiel macht mir großen Spaß.
    Warum nicht anderen Kindern auch? Wir könnten Wettbewerbe veranstalten: Wer erinnert sich an die meisten Vögel? An die Schüler auf dem Schulhof? An die Leute auf dem Markt? Ich versuche meine Mitschülerinnen für das Spiel zu gewinnen; sie lachen mich aus. In meiner Klasse rufen sie: »Rotes Haar, Teufel im Leib!« Ein Mädchen meint, ich sei eine Hexe. Sie glaubt, daß ich nachts auf dem Besenstiel zum Sabbat reite. Ich fände das ganz lustig, auf einem Besenstiel durch die Luft zu fliegen. Und was ist eigentlich ein Sabbat? Das Mädchen sagt, das sei ein Fest, wo alle Hexen zusammenkommen. Sie stellen das Kruzifix mit dem Kopf nach unten auf und feiern die Heilige Messe von hinten nach vorne. Sie kochen in einem großen Kessel eine Suppe aus Kröten, Schlangen und Brennesseln. Dann ziehen sie sich splitternackt aus und tanzen mit dem Teufel. Manchmal entführen sie Säuglinge, schneiden ihnen die Kehle durch und rösten sie am Spieß.
    Ich sage, ich bin keine Hexe. Doch, du bist eine, sagt das Mädchen. Und warte nur, eines Nachts zeigt dir der Teufel, was er unter seinem Fell hat.
    Ich habe keine Angst vor dem Teufel. Der Baum beschützt mich. Aber meine Mutter fürchtet den Teufel; sie hat keinen Baum, der über sie wacht. Sie macht ständig das Zeichen des Kreuzes. Auch über meinem Bett ist ein kleines Kruzifix an einem Nagel befestigt. Dahinter steckt ein vertrockneter Olivenzweig. Zu diesem Kruzifix spreche ich mein Nachtgebet. Meine Mutter will, daß ich für meinen Vater bete. Sie sagt nicht, warum. Ich bete für ihn, bevor ich einschlafe.
    Mein Vater ist abends oft weg. Er hat zu tun, sagt meine Mutter. Sie sagt nicht, was.
    Sonntags gehen wir in die Kathedrale St. rophime zur Messe. Es riecht nach Weihrauch und nassem Marmor. Zwischen den Pfeilern flimmern Lichtstrahlen.
    Die Orgelklänge vibrieren in meinem Körper; ich knie ganz still und blicke nach 220
    oben; sie hängen irgendwo in der Schwebe, im echohallenden Raum. Regenbogen drehen sich im Licht, der Jubel und die Freude der Musik senken einen Gnadenschein auf alle Gesichter. Es ist wunderschön.
    Die Predigt höre ich mir nicht an, sondern betrachte die Funken der Sonne in den Kirchenfenstern, bunt wie Edelsteine. Ich spiele das gleiche Spiel wie im Garten. Es ist so einfach, daß ich kichern muß. Mein Vater runzelt die Brauen.
    Meine Mutter flüstert mir zu, ich solle mich ruhig verhalten. Ich warte auf den schönsten Augenblick, wenn Adeste fideles gesungen wird. Dann ist mir, als ob die Kathedrale sich öffnet, lautlos wie eine steinerne Blume. Oben klafft der Himmel, blau und schwindelerregend, zieht mich an wie ein Magnet. Alles funkelt und blendet. Von jeder Schwere, jedem Gefühl befreit, schwebe ich hinauf mit Licht und Musik, bis zu einem Punkt der Unendlichkeit. Es ist zum Weinen schön. Dann schweigt der Chor. Ich komme wieder zu mir; ich merke, daß ich tatsächlich weine und daß meine Nase läuft. Die Messe ist aus; meine Mutter sagt, mit dir kann man ja nirgendwo hingehen. Nicht einmal in die Kirche.
    Ich sagte ja schon, mein Vater ist ein bekannter Mann in Arles. Im Kreuzgang und auf dem Vorplatz grüßen uns viele Leute. Sie lächeln mich an und sagen, wie hübsch du geworden bist. Wie alt bist du jetzt eigentlich, Julie? Elf? Ach, dann wirst du ja bald die heilige Kommunion empfangen. Mein Vater lächelt. Seine Schuhe sind spiegelblank geputzt, und er duftet nach Habanita. Meine Mutter drückt ihre Handtasche fest unter den Arm, damit keiner sieht, wie zerschlissen sie ist. Sie antwortet, Julie lebt auf dem Mond, sie bildet sich Dinge ein, die es nicht gibt, und ihr Haar wird immer krauser. Die Leute lachen. Ein Herr kneift mir in die Wange. Sein Atem pfeift, und er ist etwas rot im Gesicht. Er sagt, eine richtige kleine Schönheit bist du, und dieses Kleid, wie gut es dir steht! Wenn du groß bist, mußt du immer Rosa tragen. Rosa ist meine Lieblingsfarbe. Mein Kleid reicht etwas hinab über die Knie und wird mit einer Schleife an der Taille festgebunden.
    Im Mai empfange ich meine erste Kommunion. Ich bin noch etwas

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