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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Böse, von Unschuld und Sünde, kamen später dazu. Alle Mythen servieren uns die gleiche Geschichte, mit oder ohne Feigenblatt!«
    Ihre Stimmen, verwoben mit den Stimmen der hereinströmenden Zuschauer, entschwanden in weite Ferne, während ich mich von mir selbst löste, hinüberglitt, irgendwohin. In diesem Zustand hörte ich nicht mehr, was gesagt wurde. Ich spürte die Materie auf eine andere Art, fühlte die weiche Beschaffenheit der Bodenmatten, die Holzmaserung, glatt wie Seide, das Licht, goldschimmernd und gedämpft. Dann verringerte sich dieses Licht – es ging nicht aus, sondern blieb wie eine goldene Dämmerung, nur einige Schattierungen dunkler, im Saal. Ich bemerkte, daß einige Zuschauer, vornehmlich ältere Menschen, eine Partitur in der Hand hielten, um dem Geschehen auf der Bühne zu folgen.
    Die Musiker, vier ältere Männer, traten aus den Kulissen und nahmen auf der Bühne Platz. Sie trugen schlichte, schwarzgraue Gewänder mit Flügelärmeln. Die drei ersten hatten kleine Handtrommeln, der vierte eine Flöte. Das Stimmengewirr brach ab; für einen Augenblick herrschte völlige Stille. Dann setzte die Musik ein.
    Der Trommler schlug den ersten Ton, begleitete ihn mit einem eigentümlichen Ruf: einem sich aus tiefer Stimmlage steigernden Vokallaut. Wie der Schrei eines Vogels klang das, urtümlich,“ befremdend, herzergreifend. Ich spürte, wie ich erschauerte, während nun die Rufe, einander folgend, den Rhythmus der Trommel begleiteten. Mir war, als ob sich mein Körper nach allen Seiten ausdehnte, als ob sich ein Teil meines Selbst von mir löste; ich fühlte mich davongetragen, mitgezogen von den Schlägen der Trommel, von den schrill einsetzenden Flötentönen. Und so, vorangetragen von dem steten Herzschlag der Trommel, angelockt vom Zirpen der Flöte, betrat nun ein Wanderer in grauem Umhang die Bühne. Ein Strohhut verbarg sein Gesicht. Ob er Mann oder Frau war, hatte nichts zu bedeuten. Er war ein Mensch nur, ein Reisender im eigenen Leben. In Raum und Zeit war ihm nicht mehr als ein Tag beschieden. Wie der Morgen der ungestümen Jugend gehört und der Mittag, mit der hochstehenden Sonne, den reifen Menschen, so war der sinkende Abend die Zeit derer, deren Leben sich, wie der scheidende Tag, dem Ende zuneigt. Gleichwohl: Jeder Augenblick bis dahin enthielt seine eigene Ewigkeit. Und so traten dem Reisenden zuerst einige junge Bauern entgegen. Sie feierten ein Erntefest und zogen den Wanderer in ihren Kreis.
    Er tanzte mit ihnen, wollte länger verweilen. Doch die Flöte lockte ihn fort, die urtümlichen Rufe, volltönend und unbarmherzig, trieben ihn weiter. So ging er dann, und die Bauern überließen ihm einen Krug Reiswein zum Trost. Nun traf der Wanderer eine Blumenfee, deren Kleid sich in einem Dornenbusch verfangen hatte. Der Wanderer befreite die Fee, die ihm einen magischen Spiegel schenkte.
    Als nächstes begegnete er einem armseligen Bettelmönch. Der Wanderer schnitt seinen Umhang entzwei, teilte ihn mit dem Frierenden. Dieser überreichte ihm zum Dank die drei Orangen der Weisheit. Mit diesen Gegenständen versehen, setzte der 83
    Reisende seine Wanderung fort. Am Boden war eine rote Spur: ein Band, einem Blutsfaden ähnlich. Der Spur nachgehend, betrat der Wanderer einen Wald. Da begegnete ihm ein Dämon in der Gestalt eines Holzfällers. Der Wanderer reichte ihm den Reiswein. Als der Holzfäller betrunken war, hielt ihm der Wanderer den Spiegel vor, in dem der Dämon sein eigenes Gesicht erkannte. Da Helen die Hüllen: Der Dämon zeigte sein furchterregendes Antlitz. Er schwang seine Axt in ohnmächtiger Wut, wirbelte herum, bald sich niederkauernd, bald sich erhebend.
    Die Trommel steigerte sich zum rasenden Wirbel, die Flöte schrillte. Der Reisende aber wanderte weiter durch den Wald, den Wald, der unsere Seele darstellte, und achtete nicht auf die Sprünge und Drohgebärden des Dämons. Dieser tobte noch eine Weile, dann verschluckte ihn die Erde; der Wanderer war befreit. Nun kam er zu einem Heiligtum, wo er als Opfergaben die drei Orangen niederlegte. Da fiel ein Vorhang: Die Göttin erschien.
    Mir war, als ob in meiner Brust eine Woge anschwoll. Meine Kehle wurde eng: Tränen stiegen in mir auf, während die weißgoldene Göttin langsam aus dem Helldunkel trat. Ihr Antlitz, eine weiße Maske, gehörte nicht in diese Welt; es zeigte weder Güte noch Bosheit, nur himmlische Heiterkeit. Ihr goldener Kopfputz stellte einen Kranich dar; die langen Ärmel bewegten sich

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