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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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nicht.
    »Sie sind nur für sehr kurze Zeit hier«, sagte er. »Sie können mich als Fremdenführer benutzen. Das könnte für Sie lehrreich sein. Und noch etwas: So sehr von oben herab, wie Sie vielleicht glauben, ist mein Blick nicht.«
    Ich schwieg. Er ließ mich nicht aus den Augen.
    »Woran denken Sie jetzt?«
    Ich schüttelte stumm den Kopf.
    »Heute abend kommen Sie mit mir«, sagte er. »Ich zeige Ihnen das wahre Tokio.«
    »Nein.«
    Sein Blick hinter den schwarzen Gläsern lähmte mich. Hab keine Angst. Er weiß nicht, wer du bist. Das ist eine große Erleichterung.
    »Ich hole Sie im Hotel ab.«
    »Nein«, wiederholte ich.
    Es war halb fünf, als wir mit dem Taxi zum Theater fuhren. Charles, der neben dem Fahrer saß, wandte uns den Kopf zu, gab Erläuterungen über das Nô-Spiel. Er sagte, die Vorstellung könne Stunden dauern, Ermüdungserscheinungen seien nicht ausgeschlossen, und es gäbe sogar Japaner, die nur wenig davon verstünden.
    Daraufhin erwiderte Franca, es läge nicht in ihrer Absicht, in die Tiefenperspektive vorzudringen, und im übrigen habe sie wunde Füße und sei froh, endlich mal ein paar Stunden sitzen zu können. Ich lehnte mich zurück, sah aus dem Fenster.
    Straßen, von Fahrzeugströmen und Fußgängern erfüllt, zuckende Lichter, glitzernde Unendlichkeit. Was weiß ich von dem wirklichen Leben dieser Stadt?
    Sie flüsterte mir ständig zu, sei ruhig, warte, gib nicht auf. Du lügst mir was vor, Tokio! Mit welcher Hoffnung auch immer ich hierher gekommen bin, sie wird sich 81
    nicht erfüllen. Ich bin in meiner Haut gefangen, ich glühe, ich friere, und ständig kommen mir die Tränen. Alles, was ich sehe, höre und empfinde, blitzt auf, um zu zerfallen, wird zur Täuschung, zur Illusion, einschläfernd für die Augen und tödlich für das Herz. Du fliegst an mir vorbei, Tokio. Dein Pulsschlag ist überall zu spüren. Ich aber erhasche nichts anderes als einen Blick hinter Glas. Ein verlorener Traum.
    »Es gab einmal eine Blume, einen Stein, einen Kristall, eine Königin und einen König, ein Schloß, einen Liebenden und eine Geliebte, irgendwo, vor langer, langer Zeit, auf einer Insel mitten im Meer, vor fünftausend Jahren. Solcherart ist die Liebe, die mystische Blume der Seele. Das ist das Zentrum, das Selbst…«
    Isami. Der Name kommt mir ständig in den Sinn. Und dahinter verbirgt sich noch ein anderer Name. Oder erinnere ich mich falsch? Es ist wirklich ganz zwecklos, zu warten.
    Das Taxi hielt. Wir stiegen aus. Auf der anderen Straßenseite strömten die Zuschauer in dichten Reihen langsam durch ein großes Holzportal.
    »Wir haben gute Plätze«, sagte Charles. »Ganz vorne.«
    Eingekeilt in der Menge, schoben wir uns durch eine Gartenanlage. Im Schatten hoher Bäume schimmerten Blumen wie weiße Sterne. Die Nacht verbreitete Entspannung, als schliefe in den Samtfalten der Dunkelheit jede Unruhe ein. Der Weg führte in Windungen auf ein hellerleuchtetes Gebäude zu, dessen Architektur den japanischen Heiligtümern nachempfunden war. Durch eine Halle traten wir in einen Saal mit einem Halbkreis großzügiger, weichgepolsterter Sitze. Als Kontrast dagegen kam mir die Bühne aus hellem Holz klein und schlicht vor. Als einziger Bühnenschmuck war das Rollbild einer Kiefer zu sehen, smaragdgrün auf goldenem Grund, wuchtig wie eine brodelnde Wolke.
    »Alle No-Bühnen zeigen dieses Bild«, erklärte Charles, eifrig darum bemüht, seine Kenntnisse über Japan anzubringen. »Der Urtyp dieser Kiefer steht im Park des Kasuga-Schreins in Nara. Ihr Name ist Yogomatsu: die Kiefer, welche die Schatten willkommen heißt. In alten Zeiten glaubten die Japaner – wie übrigens auch die Germanen und die Kelten –, daß sich die Götter auf Bäumen niederließen.«
    Eine Gänsehaut überlief mich. Vor meinem inneren Auge flackerte ein Bild auf, ein Bild von früher. Was hatte ich damals genau gesehen, als ich am Fenster stand und in den finsteren Garten blickte? Nichts. Ich hatte gar nichts gesehen.
    Oder doch?
    »Vor solchen Göttersitzen«, fuhr Charles fort, »brachten die Japaner Opfer dar und führten kultische Tänze auf. Ursprünglich soll es bei solchen Kulthandlungen bedeutend freizügiger zugegangen sein als heute. Um es ganz kraß zu formulieren, der Ursprung der japanischen Religion ist der Geschlechtsakt.«
    Franca warf gähnend ein, daß die Geschichte von Adam und Eva schließlich nichts anderes sei.
    82
    »Moralische und philosophische Grundsätze, der Begriff von Gut und

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