Silbermuschel
nicht ab, öffnete auch nicht die Augen. Nach einer Weile schwieg das Telefon. Ich drehte mich auf die andere Seite und schlief weiter.
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6. KAPITEL
I ch erwachte und fühlte mich wie bei hohem Wellengang. Ein dumpfes Dröhnen – und ich spürte, wie das Bett sich unter mir bewegte. Die Deckenlampe schwankte hin und her. Einen Atemzug lang war ich wie betäubt, mein Herz klopfte zum Zerspringen. Die Wände ächzten und knirschten, irgendwo klirrte Glas; mir war, als ob sich das ganze Gebäude langsam schaukelnd aus seinen Grundfesten löste. Dann kam der Boden wieder zur Ruhe.
Ich holte tief Luft. Ich zitterte vor Furcht. Mit weichen Knien stand ich auf, ging ans Fenster. Ich zog die Vorhänge auf, spähte nach draußen. Die Hochhäuser fingen die Morgensonne auf, eine Autoschlange staute sich vor der Ampel. Ob ich das Ganze nur geträumt hatte? Doch als ich im Badezimmer Licht machte, sah ich Scherben glitzern. Mein kleiner Handspiegel war über den Rand des Waschbeckens gerutscht und auf den Fliesen zersprungen. Behutsam las ich die Scherben auf.
Im Frühstücksraum saßen nur wenige Gäste. Alles war wie sonst. Der Ober begrüßte mich mit einem Lächeln. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Spur von Aufregung. Ich strich Honig auf mein Brötchen, als Franca in ihrem beigen Leinenkostüm erschien. Sie setzte sich, außer Atem. Ihr Parfüm wehte mir über das Tischtuch entgegen.
»Hast du das Erdbeben bemerkt? Ziemlich schrecklich, nicht wahr?«
»Ja. Kommt das häufig vor?«
»Ein paarmal im Monat. Aber das war nur ein schwaches Beben.
Man sagt, eines Tages gäbe es einen großen Knall, und ganz Tokio würde im Erdboden versinken.«
Franca sah blaß aus, mit eingesunkenen Augen. Sie trank ihren Espresso wie Medizin. Die Spiegeleier wies sie mit leichtem Schaudern zurück.
»Michael scheint hinter dir her zu sein«, sagte sie unvermittelt. »Warum gehst du nicht mal mit ihm aus, statt in Tokio wie eine Nonne zu leben?«
»Dein Espresso wird kalt«, gab ich zur Antwort, doch Franca ließ sich nicht ablenken.
»Natürlich hat er ein Trauma. Aber jeder Schriftsteller tut sich schwer, wenn er gerade ein Buch schreibt. Und vielleicht ist er in das falsche Land geraten.«
»Er hat gestern abend angerufen«, sagte ich.
Franca hob fragend die Brauen. Ich schüttelte den Kopf.
»Nichts. Ich wollte nicht mit ihm sprechen.«
»Du bist wirklich nicht zu retten! « Franca steckte sich ihre erste Zigarette an und blätterte in ihrem Filofax.
»Also, ich sollte noch ein paar Termine abmachen. Du weißt, daß ich einige Musiker und Komponisten sehen will. Dann machen wir einen Rundgang durch die Messe. Was noch? Ach ja, Charles versprach uns Karten für die Nô-Aufführung.«
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Franca ging in ihr Zimmer und telefonierte. Eine Stunde später war ihr Programm beisammen. Ein traditionelles Trommlerkonzert und eine Begegnung mit einem Komponisten, dessen Oper mit elektronischer Klanggestaltung in New York aufgeführt worden war.
Auf dem Messegelände herrschte bereits Hochbetrieb. Die Hostessen, am Eingang aufgereiht, verbeugten sich bis zur Taille und wünschten jedem, der hereinkam, einen guten Morgen. Die Aschenbecher waren geleert, die Blumen frisch, der Boden spiegelblank geputzt. Gelegentlich schrie jemand eine Telefonmeldung von einer Gruppe zur nächsten. Jeder versuchte, sich trotz des Lärmpegels Gehör zu verschaffen. Franca bahnte sich zielstrebig einen Weg durchs Gewühl. Ich folgte ihr teilnahmslos, halb mir selbst überlassen. Im Niemandsland der Ausstellung erkannte ich kein Gesicht, wußte nicht einmal mehr, in welche Richtung wir zu gehen hatten. Charles war schon da. Er hatte uns Karten für das Nô-Spiel mitgebracht. Die Vorstellung begann um fünf.
»Die Aufführungen sind meistens schon vorher ausverkauft. Aber für die Presse ist stets eine Anzahl Plätze reserviert.«
Gegen elf gingen wir an die Stehbar. Franca und Charles tranken Bier aus kleinen Plastikbechern, rauchten eine Zigarette und redeten. Ich bat um einen Orangensaft. Das Zuhören strengte mich immer mehr an. Eingeweihtensprache.
Wirtschaftslatein. Was hatte ich eigentlich hier zu suchen? Es wurde immer schwieriger, Gefühle und Gedanken stärker zu empfinden als den Lärm und das Gedränge um mich herum.
In dem Augenblick, da ich nach meinem Orangensaft griff, hatte ich eine jähe Empfindung plötzlicher Kälte. Ruckartig wandte ich mich um und sah Michael dicht hinter mir stehen.
»Sie waren nicht leicht zu finden in
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