Silbermuschel
wie Flügel, ihre Füße, in weißen Socken steckend, stampften im Rhythmus der Trommel. Ich hatte erfahren, daß unter der Bühne kleine, in Erdlöchern schwingende Tonzylinder befestigt waren, welche die Erschütterung des Bühnenbodens an die Erde weitergaben. Die Bühne selbst wurde zur Riesenmuschel, vom Echo erfüllt, in der sich die perlengleiche Göttin tanzend bewegte. Jetzt hob sie ihren Fächer über den Kopf, eine spielerische Geste höchster Macht. Ihre Augen blitzten in unbefangener Freude, ihre kirschroten Lippen lächelten. Ihr Tanz war eine Sprache wie der Tanz der Bienen im Sonnenlicht. Sie sprach zu dem schlafenden Kind in mir, zu dem kleinen Mädchen mit der rosa Schleife im Haar. Das kleine Mädchen verstand sie, auch wenn ich selbst nicht dazu fähig war. Schau nur, sprach die Göttin, aus dem Zusammenspiel von Himmel und Erde entsteht ein Rhythmus, das Prinzip des Lebens, das den Menschen ebenso regiert wie die Ordnung der Gestirne. Das Leben ist die Freude, die Liebe, die Ewigkeit. Wenn aber die Liebe als Transvestit erscheint, bringt sie den Tod. Gut und Böse mußt du als verschiedene Aspekte der gleichen Sache erkennen. Darum ist es erforderlich, böse Taten in gute umzuwandeln; sie müssen entschlackt und geläutert werden durch den Schmerz der sterblichen Kreatur. Gewiß, sprach die Göttin, das Böse scheint manchmal zu siegen, aber der Weg des Leidens ist nur kurz: Er ist der Kaufpreis für eine Herrlichkeit ohne Maß, die von grenzenloser Dauer ist. Und alle Kreaturen sind gleich unter dem Himmel, die Menschen und die Tiere, die Pflanzen und die Steine. Und ganz zu Beginn der Zeiten gab es keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier, denn alle sprachen die gleiche Sprache, und die Worte wurden lebendig. Ich wußte nicht, was die Göttin damit sagen wollte, aber das kleine 84
Mädchen verstand sie sehr gut. Es hatte das ja alles schon erlebt, einst hatte sie die Sprache der Pflanzen und Tiere verstanden. Und als das Böse ihren Körper schändete und ihre Seele zerstörte, da hatte sie aus den Geheimnissen der Pflanzen und Tiere eine mächtige Zauberkraft gewonnen. Auf diese Weise hatte sich das kleine Mädchen eine Neuordnung erschaffen, in der sein Geist geheilt wurde, langsam, langsam aus der Tiefe emportauchend. Jetzt wartete es auf der Schwelle, daß ich es wieder hereinließ. Das kleine Mädchen wußte, es war schwierig für mich, fast unmöglich. Einst hatte ich es ja getötet. Würde ich die Kraft finden, den Teufel ein zweites Mal zu bekämpfen? Doch die Göttin sagte, ich solle mich nicht fürchten. Der Teufel sei nur der Schatten eines Menschen, der längst für sein Verbrechen büßte, und mein Schmerz sei nichts als ein verblassender Hauch, auf der reinen Fläche eines Spiegels…
Und als ob dieses Bild alles erklärte, verdunkelte sich das Licht; die Göttin zog sich zurück wie ein Nebelschleier. Der Bann war gebrochen: Das kleine Mädchen wich lautlos in die Dunkelheit zurück, trat rückwärts herein, verschwand im selben Augenblick, da die Göttin auf der Bühne beide Arme hob. Aus den wehenden Flügelärmeln wuchs ein Licht und verblaßte. In Gestalt einer Vogelfrau schwebte die Göttin empor, stieg höher, flog der Dunkelheit entgegen, deren letzter Schimmer sie begleitete. Auf der Bühne erhob sich der Reisende und folgte, auf seinen Stab gestützt, dieser Spur. Die Musikanten verzogen sich wie Schatten. Es war vorbei.
Einige Atemzüge lang herrschte Stille, bevor die Zuschauer zurückhaltend Beifall spendeten. Die Leute erhoben sich und gingen aus dem Saal. Ich aber saß und starrte auf die leere Bühne. Die Göttin war eingetaucht ins Jenseits, ins Nichts, doch über dem Bild der Kiefer schwebte noch immer die Aura des Geheimnisvollen. Und ich wußte, ich hatte diesen Schimmer schon früher gesehen, über einem Baum am anderen Ende der Welt, einem Baum, der längst gefällt war, zerstückelt und verkohlt, zu Asche geworden…
»Offen gestanden, ich bin beeindruckt, auch wenn es manchmal ein bißchen langatmig war.«
Es war Franca, die neben mir sprach. Ihre Stimme brachte mich in die Wirklichkeit zurück.
»Man hat inzwischen eingesehen, daß solche Stücke der heutigen Zeit nicht mehr angepaßt sind und gekürzte Fassungen beim Publikum besser ankommen«, fühlte sich Charles verpflichtet, zu erklären.
»Ich würde mich gern mit den Schauspielern unterhalten«, fuhr Franca fort.
»Glaubst du, daß sich das machen ließe?«
Charles ging sofort auf den
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