Silberschwester - 14
hätte, am Ende aus ihrem blutsteifen
Gewand herauskommen und in ihrem eigenen Bett schlafen zu können.
Trotzdem, es
war beinahe Mitternacht und Alyssa zum Umfallen müde, als sie endlich zum Tor
kamen. Der Torwächter musterte ihre Truppe mit befremdetem Blick, was sie ihm
auch nicht im Geringsten verdachte, und sagte nur eins: »Deine Eltern sind
zurück.«
Da schloss sie
für einen Moment die Augen und meinte: »Danke, dass du mir das gesagt hast,
Jon.«
Jon öffnete
das Tor, und die müde Schar zog still in den Hof ein. »Du gehst ins Bett,
Alyssa«, befahl Sarras sanft. »Ich weiß ja noch, wo die Kapelle ist, und wir
können uns auch um den Leichnam kümmern.«
»Aber, es ist
doch meine Pflicht …«, hob Alyssa an.
»Deine erste
Pflicht ist, dich um diese Klinge zu kümmern«, mahnte Sarras. »Nur du kannst
sie ohne Gefahr halten, musst dafür aber gesund und ausgeruht sein! Sieh zu,
dass du ein wenig Schlaf bekommst.«
»Ja, Fräulein
Alyssa«, fiel Logas ein. »Geh du ins Bett. Wir übernehmen den Leichnam. Hätte
ich besser auf Fitzroy aufgepasst, wäre das nicht passiert. Das ist meine
Schuld.«
»Gut …« Alyssa
war zu müde für Diskussionen. Sie schleppte sich die Treppe zum Dachboden hoch,
schlich auf Zehenspitzen an den im Hauptraum schlafenden Mägden und Näherinnen
vorbei und schlüpfte durch den Vorhang ihrer Schlafkammer. Da legte sie die
noch in Seide gehüllte Klinge unter ihr Kopfkissen, zog ihre Kleider aus und
warf sie auf dem Boden auf einen Haufen, wusch sich mit einem Leinenlappen und
etwas Wasser aus ihrer Waschkanne das trockene Blut ab, zog ein frisches
Nachthemd an und schlüpfte ins Bett.
Es war bereits der zweite Tag, an dem
Alyssa bis weit in den Vormittag hinein schlief und dann von der Stimme einer
Frau geweckt wurde, die vom Herrn Robert Fitzroy sprach. Diesmal aber war das
ihre Mutter …
»Gütiger Gott,
es ist wahr!«
Als Alyssa die
Augen aufschlug, sah sie ihre Mutter auf das Häufchen blutbefleckter Kleider
vor ihrem Bett starren.
»Du hast den
Sohn des Königs getötet! Gott weiß, wie sehr mich dein Verhalten all diese
Jahre enttäuscht hat, aber das ist mehr, als ich ertragen kann!«
So zeterte
ihre Mutter, fuhr sodann herum, packte sie an den Schultern und schüttelte sie
wie eine Flickenpuppe … »Dein Vater und ich«, schrie sie, »bieten dir ein Heim,
das jedes vernünftige Kind nur zu gern hüten würde, aber du, was tust du,
sobald wir dir bloß den Rücken kehren? Du läufst mit dem natürlichen Sohn des
Königs davon … und tötest ihn dann!«
»Ich habe ihn
nicht getötet!« Alyssa wollte sich wehren, wurde aber plötzlich von jenem
unbehaglichen Gefühl gepackt, das die Predigten ihrer Mutter oft bei ihr
erzeugten. Zumindest glaube ich, dass ich es nicht getan habe … aber es ging ja
alles so schnell … habe ich ihn denn getötet?
»Komm mir
nicht so frech!«, schrie ihre Mutter und schlug sie so wütend ins Gesicht, dass
sie quer übers Bett flog und das Kopfkissen ins Rutschen kam, zu Boden fiel –
und die in Tuch gewickelte Klinge mit ihm.
»Was ist das?«
Als Alyssa
sich hochgerappelt und aufgesetzt hatte, sah sie entsetzt, dass ihre Mutter
gerade die Klinge der Vernichtung auspackte und in die bloße Hand nahm. »Nicht
doch!«, rief sie. »Leg sie weg! Sie ist gefährlich!«
»Zum letzten
Mal: Komm mir nicht so frech!«, schrie die Mutter dafür. »Hast du ihn damit
getötet, um für den Rest deines Lebens damit zu schlafen?« Darauf drang sie auf
sie ein und richtete die spitze Klinge auf ihr Herz. »Oh, ich müsste dich mit
eigener Hand töten und so dem König die Mühe ersparen!«
Alyssa saß wie
vom Donner gerührt auf ihrem Bett und starrte erschrocken und entsetzt die
Mutter an. Sie sieht wahrhaft aus, als ob sie mich töten könnte. Und hält zudem
die Klinge der Vernichtung wie ihr Tischmesser – die hat ja überhaupt keine
Wirkung auf sie.
Da fassten
starke Hände durch den Vorhang, packten die Herrin an den Armen. Dann kam
Sarras vollends herein und rief: »Der König wird es kaum schätzen, wenn du
deine Tochter tötest. Er hält doch sehr darauf, dass die Rechtspflege sein
Vorrecht sei.«
»Aber sie ist
ja nur eine junge Frau, und er hat einen Sohn verloren!«
Sarras
seufzte. »Alyssa, nimm du jetzt bitte die Klinge.«
Die klare
Order riss Alyssa aus ihrer Lähmung. Sie erhob sich und bog ihrer Mutter die
widerspenstigen Finger auf, bis die Klinge zu Boden fiel. Sie hob sie hastig
auf, schlug sie in ihren
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