Silberschwester - 14
hin wurde er aber zum Lagerfeuer, um das ungefähr fünfzig, in bunte
Fetzen gehüllte, mit Degen, Dolchen und Bögen bewaffnete Banditen lagerten. Sie
feierten ihren Sieg, kippten die Becher, dass ihnen Bier in ihre verfilzten
Bärte rann, und rissen sich die Stücke vom fetten Spießbraten … Am Rand des
Lichtkreises standen, mit Fußfesseln versehen, ihre Pferde, und in einem Ring
aus schwer beladenen Wagen drängte sich das geraubte Vieh von Tjalve. Und in
den Wagen war, das wusste Winter, der ganze Reichtum des Dorfes – die Kessel
und Pfannen, Werkzeuge und Ballen von selbst gewebtem Tuch sowie, als das Wertvollste
und Wichtigste im Frühjahr, der Rest der Ernte vom letzten Herbst.
Sechzig oder
mehr junge Frauen lagen im Schein des Feuers auf der nackten Erde, an Händen
und Füßen gefesselt, die Kleider zerfetzt, blutbefleckt – aber in ihrer Nähe
war kein Bandit zu sehen. Sie sollten den Brüdern wohl als der letzte Gang
ihres Festgelages dienen!
Als sie den
Blick von einer der Frauen zur anderen wandern ließ, sah sie Trauer und
Schmerz, Entsetzen und Verzweiflung. Sie erinnerte sich noch an die Angst, den
Hass in den Gesichtern dieser Frauen bei ihrer Vertreibung aus Tjalve! Seit
damals hatten die sich ja nur bei ihr blicken lassen, wenn sie dringend ihrer
Heilkünste bedurften. Aber diese sieben Jahre Einsamkeit und Zorn hatten ihr
Herz nicht so verhärtet, dass sie die Not der Armen und ihre Schuld daran nicht
gesehen hätte. Ja, es wäre ihre Pflicht gewesen, sie zu schützen.
Wo war Rabin?
Hatte ihr Herz versagt? Eine alte Angst: Rabin war immer schrecklich scheu
gewesen und hatte sich wohl nur mit ihr etwas entspannter geben können, ja,
sich von ihr in der Jugend verleiten lassen, den Leuten Streiche zu spielen.
Kaum jemand hatte ihnen die übel genommen … Bürgermeister Wagner schon. Er war
humorlos und nachtragend. Und er hatte Winters Vater nicht leiden können. Also
hatten sie ihn gnadenlos ins Visier genommen. Einmal, als sie zwölf waren,
hatten sie ihm Kuhmist vor die Tür gehäuft, den Fladen mit Zunder und trockenem
Laub bedeckt, das angezündet, dann bei ihm geklopft und die Beine unter die
Arme genommen, um dann, von der Ecke einer anderen Hütte aus, zu verfolgen, wie
der ungelenke, knochige Kerl aus der Tür fuhr und das Feuerchen austrat: Und
dabei knöcheltief in Kuhdung trat. Er hatte sie zwar nicht gesehen, aber
natürlich gewusst, wer der Schuldige war.
Dann hatte
Rabin gesagt, sie habe genug von ihren Streichen, und sich noch mehr in sich
vergraben, bis sie sich schließlich auch so reserviert verhielt, wenn sie mit
Winter allein war.
Für Winter
ging die Jugend mit jenem Angriff der Banditen zu Ende. Als die Kerle dann tot
oder geflohen waren, kroch sie, mit Pfeilen in Gliedern und Schulter und einer
knochentiefen Beinverletzung, zu ihrem Vater, der bewusstlos und mit einer
ekligen, übel riechenden Bauchwunde, die ihm einen langsamen Tod versprach,
hinter einer Schanze lag. Sie gab sich große Mühe mit ihrem Heilbann, hatte
aber nicht mehr genug Kraft, sodass der Zauber seine allerletzten Reserven
aufbrauchte … So tötete sie ihren Vater.
Sie hatte dann
weder die Kraft noch den Wunsch, sich selbst zu heilen. Aber sie erholte sich
doch, auch wenn es viele Monate lang dauerte. Als sie wieder gehen konnte,
starb ihre Mutter, die den Tod ihres Mannes nie hatte verwinden können.
Aber Winter
war zu jener Zeit mit ihren dreizehn Jahren bereits alt genug, für sich selbst zu
sorgen. Sie lebte ganz allein im Haus ihrer Ahnen und behandelte wie ihr Vater
und seine Vorfahren die Kranken und Verwundeten von Tjalve. Die freie Zeit, die
ihr blieb, verbrachte sie großenteils mit Rabin.
Aber eines
Morgens, ungefähr zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sie vergessen,
ihren Stock mitzunehmen, als sie Rabin besuchen ging. Als die beiden dann
zusammen aus dem Haus traten, fanden sie einen Haufen finster dreinblickender
Männer und Frauen vor. Winter suchte ihre Tante Distel unter ihnen, konnte sie
aber nirgends entdecken. In der vordersten Reihe sah sie Bürgermeister Wagner
stehen, mit einem seltsamen Lächeln um die Lippen. Wagner lächelte sonst nie.
Also rief sie:
»Ist das eine Dorfversammlung? Wir sind doch auch schon erwachsen. Warum hat
man uns nichts gesagt?«
Da hob Wagner
die Hand, und schon fühlte sie sich von starken Armen derbe gepackt. Sie wehrte
sich heftig und versuchte, sich loszureißen, und sah Rabin im Griff von zweien
der fünf Söhne Wagners,
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