Silberstern Sternentänzers Sohn 01 - Der geheimnisvolle Hengst
Nur wer ihn verspottet, muss mit seiner Rache rechnen.“
Annit nickte. Dann deutete sie mit ihrem Brot zu einer Berggruppe und lachte. „Die sehen ja fast aus wie Pferdeköpfe“, stellte sie fest.
„Und sie heißen auch so“, erwiderte Rosalia und erklärte dann, dass alle Berge hier wegen ihres bizarren Aussehens besondere Namen wie Sonnenblume, Wallfahrer oder Schneekoppe bekommen hätten.
Annit schluckte den letzten Bissen ihres Marmeladenbrots hinunter. „Ich will noch schnell zu Silberstern, bevor wir weiterfahren“, sagte sie zu Rosalia und lief dann zu dem hohen Baum, an dem der junge Hengst festgebunden war. Die anderen Pferde waren schon in die Anhänger gebracht worden.
Zärtlich strich Annit über das schwarze, glänzende Fell des jungen Hengstes. „Guten Morgen, mein Kleiner“, begrüßte sie ihn, so wie sie es jeden Tag machte, seit sie sich Roccos Zirkustruppe angeschlossen hatte.
Eigentlich war Silberstern Roccos Pferd. Doch Annit kümmerte sich um ihn und trat mit ihm in Roccos Zirkus auf. Daher hatte sie das Gefühl, dass er eigentlich ihr gehörte.
Inzwischen konnte Annit sich ihr Leben ohne Silberstern gar nicht mehr vorstellen. Auch wenn sie auf dem Bauernhof ihrer Eltern mit Tieren aufgewachsen war, die für sie immer wie Freunde waren, hatte sie sich doch mit keinem so tief verbunden gefühlt wie mit diesem schönen schwarzen Araberhengst mit dem weißen Keilstern auf der Stirn. Genau wie sein Vater Sternentänzer war auch Silberstern in einer stürmischen Vollmondnacht auf die Welt gekommen. Und nicht nur das: Genau wie sein Vater war auch Silberstern ein magisches Pferd. Manchmal kam es Annit fast so vor, als ob der schwarze Hengst ein Teil von ihr wäre, ein Teil ihrer Seele - ohne dass sie genau sagen konnte, warum das so war. Doch sie wusste, dass Silberstern ein Geheimnis umgab, das ihn mit ihr verband.
In diesem Moment trat Rocco zu Annit und Silberstern. Er band den Hengst vom Baum los. „Wir müssen weiter“, sagte er zu Annit. „Ich will heute Abend noch in Lodsch sein.“
Annit folgte ihm und Silberstern zu dem Anhänger, in dem der Hengst untergebracht wurde.
„Ist es denn noch weit bis dahin?“, fragte Annit, als sie auf dem Beifahrersitz in Roccos altem, kunstvoll bemaltem Kleinbus saß. Die anderen aus der Truppe folgten ihnen mit ihren Trucks und Wohnwagen.
Annit freute sich auf die Fahrt. Nicht nur, weil es mit Rocco nie langweilig wurde, sondern auch, weil sie noch nie in Polen und der Hauptstadt Warschau gewesen war. Dabei wünschte sie sich schon seit Langem nichts sehnlicher, als fremde Länder kennenzulernen.
Als sie am Tag zuvor losgefahren waren, hatte sie sich zunächst ein bisschen geärgert, weil sie in der Schule nicht besser aufgepasst hatte.
Doch Rocco hatte all ihre Fragen so geduldig beantwortet, dass sie über das Land inzwischen mehr gelernt hatte, als ihre Lehrerin ihr je hätte beibringen können. Außerdem schmückte er seine Erzählungen immer mit Abenteuern aus, die er erlebt hatte. Manchmal beneidete sie ihn fast ein bisschen, weil er schon so viel von der Welt gesehen hatte.
Aber wenn man erst fünfzehn ist wie ich, kann man eben noch nicht so viel erlebt haben wie Rocco, dachte sie dann.
Annit wusste eigentlich gar nicht so genau, wie alt Rocco tatsächlich war. Wenn er als Feuerschlucker auftrat, die langen schwarzen Korkenzieherlocken zu einem Pferdeschwanz gebunden, kam er ihr fast wie ein älterer Bruder vor. Na ja, ein sehr viel älterer Bruder! Wurde er jedoch wütend - was auch ab und zu vorkam, wenn etwas nicht so klappte, wie er wollte -, dann zeichneten sich Falten um seine Augen und seinen Mund ab. Die waren dann fast so tief wie die von Annits Großvater.
„Das da drüben ist übrigens Karpacz“, unterbrach Rocco ihre Gedanken und zeigte durch die Windschutzscheibe auf eine kleine Stadt, an der sie gerade eben vorbeifuhren. Er erzählte, dass hier früher Holzfäller, Teerbrenner und Laboranten gewohnt hatten.
„Was sind denn Laboranten?“, erkundigte sich Annit.
„Das sind Laienapotheker“, erklärte Rocco. „Hier in der Gegend gibt es unzählige verschiedene Kräuter. Und die Laboranten haben daraus Arzneien hergestellt.“
Annit hörte interessiert zu. Genau wie Linas Großmutter Ami - Roccos Mutter, dachte sie. Ami streift auch immer im Wald umher, um Kräuter zu sammeln, die sie dann für ihre Heilrituale verwendet. Für einen Augenblick überfiel
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