Silberstern Sternentänzers Sohn 02 - Gefährliche Traeume
Ackergaul“, wiederholte Annit in gespieltem Entsetzen. Zärtlich legte sie den Arm um Silbersterns nassen Vorderlauf und den Kopf an seine Seite. „Hast du das gehört, mein Kleiner, was Mannito da gesagt hat? Dabei bist du doch der stolzeste und schönste Hengst, den es auf der ganzen Welt gibt.“
Silberstern wieherte aufgeregt und warf den Kopf auf und ab. Der weiße Keilstern auf seiner Stirn leuchtete im Sonnenlicht.
„Nun beruhige dich wieder, Kleiner“, beschwichtigte Mannito und kraulte die Stelle über dem Keilstern. „Ich werd dich nie wieder als süßen Ackergaul bezeichnen. Versprochen.“
Silberstern schüttelte die Mähne hin und her und stieß ein Schnauben aus, das wie Zustimmung klang.
„Aber mal im Ernst. Was ich dich fragen wollte, Annit“, begann Mannito, nachdem sie ein Stück gegangen waren. Seine Hand umklammerte die Mitte des Lenkers, während er und Annit gemächlich am Bach entlang talabwärts spazierten.
Silberstern marschierte auf Annits Seite im Zotteltrab neben ihnen her. Der frische Wind, der vom Tal heraufwehte, hatte Annits Wangen leicht gerötet. Ihre langen schwarzen Locken, die sie heute ausnahmsweise einmal nicht zusammengebunden hatte, flatterten bei jeder Bewegung, bei jedem Schritt.
Mannito warf ihr einen bewundernden Blick zu. Dann rückte er endlich mit der Sprache heraus. „Ich will Warschau verlassen, Annit“, sagte er. „Ich will endlich mal wieder mein Heimatdorf sehen, Kischila. Wo ich aufgewachsen bin. Meine Eltern in den Arm nehmen. Sehen, was meine kleine Schwester macht.“
Annit erfuhr, dass Kischila ein 500-Seelen-Dorf in den rumänischen Karpaten war.
„Es liegt in einem wunderschönen Tal, mit roten Blumen im Sommer und herrlich weißem Schnee im Winter. Da will ich endlich mal wieder hin“, erklärte Mannito.
Annit blieb mit Silberstern stehen. Mannito stoppte ebenfalls.
„Und - was hat das mit mir zu tun?“, wollte Annit wissen und zog die Stirn kraus.
Schließlich gingen sie weiter.
„Na ja“, meinte Mannito und sah einer Fliege nach, die gerade vorbeischwirrte. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich wollte dich fragen, ob du mitkommen willst - nach Kischila.“
Da war es heraus! Annit hatte so etwas Ähnliches fast geahnt. Denn bereits vor Kurzem hatte Mannito eine diesbezügliche Andeutung ihr gegenüber gemacht. „Da müsste ich erst mal auf der Weltkarte nachschauen, wo dieses Kischila überhaupt liegt“, erwiderte Annit. „Und wissen, wie weit es bis dort ist. Und wie man überhaupt dort hinkommt. Und was dann mit Silberstern wird. Und ob ich den Zirkus allein lassen kann. Und ..." Nachdenklich starrte sie vor sich hin.
Annit hatte gemerkt, dass Mannito unter Heimweh litt. Er weiß wenigstens, wo er zu Hause ist, auch wenn er durch die Welt zieht, dachte sie traurig. Aber vielleicht ist das ja die Lösung ...Ja, warum eigentlich nicht? Ich könnte mit ihm nach Rumänien gehen.
„Ach was. Zirkus ist doch nur ein Ort, wo Pferde, Ponys und andere Tiere zusehen dürfen, wie Menschen sich wie die Blöden aufführen“, witzelte Mannito.
Mannito hatte manchmal einen etwas seltsamen Humor. Annit wusste dann nicht so richtig, was sie von ihm halten sollte. Und trotzdem hatte sie in den letzten Monaten gemerkt, dass er ein guter Freund war, auf den sie sich verlassen konnte. Aber wird das so bleiben? Werde ich auch so gut mit ihm auskommen, wenn wir ständig zusammen sind?, fragte sie sich. Zum Beispiel während einer längeren Reise nach Rumänien und ins Ungewisse?
Nachdenklich blickte sie Mannito an. „Ich werd’s mir überlegen“, sagte sie.
Mannito nickte. „Wär jedenfalls schön, wenn du mitkommen würdest. Rumänien ist echt ein tolles Land. Da wird es dir bestimmt gefallen.“ Ein bisschen verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. „Und ich fänd es super, wenn wir zusammen da hingehen würden.“
Bevor Annit abends in ihr kleines Zelt kroch, schaute sie noch einmal nach Silberstern. „Na, was meinst du, mein Kleiner“, raunte sie in sein Ohr, „sollen wir mit Mannito nach Kischila gehen?“
Silberstern sah sie mit seinen großen dunklen Augen an. Dann hob er kurz den Kopf zum Himmel, an dem der Mond hell leuchtete und Millionen von Sternen funkelten. Auch Annit richtete ihren Blick zum Himmel. Ja, ich will die Welt entdecken, will weiter, immer weiter. Und der nächste Ort wird dann eben Kischila in Rumänien sein, beschloss sie und
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