Silberstern Sternentaenzers Sohn 08 - Rueckkehr ins Ungewisse
tauchten weitere Bilder aus der Wüste vor ihrem geistigen Auge auf. Und urplötzlich - von einer Sekunde zur nächsten - verspürte sie schreckliche Sehnsucht nach Syrien, nach dem Beduinenstamm der Beni Sharqi, nach dem Stammesfürsten, der fast wie ein Freund für sie geworden war, nach Alisha, nach dem würzigen Geruch des Minztees und sogar nach Couscous und Fladenbrot.
Annit stieß einen tiefen Seufzer aus. Warum muss man sich entscheiden?, dachte sie wehmütig. Warum kann man nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein? Geht es anderen Menschen auch so? Mannito bestimmt. Vermutlich wär er jetzt auch gern noch woanders. Warum muss das Leben so kompliziert sein? Ein paar Augenblicke lang spielte sie mit dem Gedanken, Südholzen wieder zu verlassen. Sich auf Silbersterns Rücken zu schwingen und einfach davonzureiten. Einfach weg. Egal wohin. Ganz weit weg.
Da spürte sie etwas Warmes, Weiches auf ihrer Hand. Ilse war näher gekommen und beschnupperte sie neugierig. Annit lächelte und strich sanft über die weichen Nüstern des Pferdes. „Hast ja recht! Hannes hat Günter versprochen, dass ich mich um dich kümmere.“ Sie schnaufte tief durch und straffte die Schultern. Außerdem muss ich meinen Adop tiveltern helfen, deswegen bin ich ja schließlich gekommen.
Heimweh
Tags darauf war es trüb und grau. Es sah aus, als würde es jeden Moment anfangen, zu regnen. Annits Laune war nicht besonders. Nun lehnte sie etwas unschlüssig in ihrem Zimmer am Fenster und blinzelte in den wolkenbedeckten Himmel. Da klopfte es an der Tür. „Ja.“
„Hallo, Annit!“ Hannes stand in der Tür. Er sah etwas ungewohnt aus. Denn er trug ein blütenweißes Hemd und eine gestreifte Krawatte, dazu eine dunkle Anzugjacke, deren Ärmel allerdings viel zu kurz für seine Arme waren, und eine Anzughose. Seine Füße steckten in schwarzen Lederschuhen. „Kommst du mit?“
„Wohin denn?“
„Ich war grad auf der Bank“, erklärte Hannes aufgeregt wie ein Schüler, der seiner Mutter eine gute Note zu verkünden hatte.
Ah! Deswegen dieses ungewöhnliche Outfit!
„Unser neues Konzept hat die Bank überzeugt. Wir kriegen wieder einen Kredit.“ Hannes strahlte über das ganze Gesicht. „Und in drei Wochen kommen einige Schüler, die bei uns auf dem Bauernhof ihre Projektwoche machen wollen. Und jetzt...“ Er holte tief Luft. „Jetzt geh ich einkaufen. Willst du mit?“
Annit zögerte. „Ich hab grad so absolut keine Lust auf Supermärkte.“
„Ach was!“ Hannes machte eine abwehrende Handbewegung. „Wir holen Hühner und Gänse. Damit auf unserem Bauernhof endlich wieder mehr Leben einkehrt.“ Er marschierte Richtung Treppe. Jetzt komm schon, wir fahren zu einem Bauernhof in der Nähe. Zum Heinz, der hat einen ganzen Stall voll Küken.“
Küken holen? „Au ja!“ Schlagartig war Annits schlechte Laune wie weggeblasen. Sie schnappte sich ihre Turnschuhe und folgte ihrem Adoptivvater nach unten auf den Hof.
Bevor Hannes in den Wagen stieg, blieb er noch einen Moment mit der Autotür in der Hand stehen und ließ seinen Blick zufrieden über den Bauernhof schweifen. „Was hältst du von einer Forellenzucht?“, fragte er dann, eigentlich mehr sich selbst als Annit. Doch gleich darauf verwarf er die Idee wieder. „War nur so eine Gedankenspinnerei. Das wäre viel zu aufwendig. Es reicht vollauf, wenn unsere Feriengäste im Sommer im Baggersee schwimmen.“ Schwungvoll setzte er sich ins Auto und startete.
Annit beeilte sich, ebenfalls einzusteigen.
„Ach Annit“, sagte Hannes, während er Gas gab. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin. Ich bin Bauer mit Leib und Seele. Ich würd’s in einer Zweizimmerwohnung nicht aushalten.“ Er schüttelte den Kopf. „Das wär nicht gegangen, nie und nimmer.“
Annit drehte den Kopf so, dass sie ihn ansehen konnte, und lächelte. Sie freute sich, ihren Vater so glücklich zu erleben. In solchen Momenten war sie stets überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, nach Südholzen zurückzukehren. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Warte!“, rief sie und legte die Hand auf seinen Arm.
Hannes stieg auf die Bremse. „Was denn?“
„Ich frag schnell noch Mannito, ob er mitkommen will!“ Annit wollte schon aussteigen, doch Hannes hielt sie zurück.
„Hab ich schon“, erklärte er. „Aber er wollte nicht. Er wollte lieber allein sein und einen Brief schreiben.“
Einen Brief schreiben? Verwundert zog Annit die Autotür wieder zu. Hm!
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