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Silbertod

Silbertod

Titel: Silbertod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F E Higgins
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überhaupt nicht wahr und setzte ihr grässliches Mahl fort.
    »He«, sagte Harry halbherzig. Dafür hatte er doch wohl kein Sixpencestück ausgegeben. »He!«, rief er lauter. Immer noch keine Reaktion. Gerade suchte er auf dem Boden nach einem Gegenstand, mit dem er das Vieh kitzeln könnte, da schoss die Bestie auf einmal blitzschnell von der Rückwand des Käfigs zur Vorderseite und warf sich gegen die Gitterstäbe. Plötzlich fand sich Harry Auge in Auge mit dem wohl absonderlichsten Geschöpf, das er je zu Gesicht bekommen hatte. In seinem Leben in Urbs Umida und in den Kreisen, in denen er verkehrte, hatte er mehr als genug absonderliche Gestalten gesehen, aber diese hier übertraf alle.
    Das Gefräßige Biest riss sein riesiges Maul auf und brüllte. Seine Zähne waren bräunlich und gelb, Geifer tropfte ihm über die Unterlippe. Sein Gesicht war dicht behaart und hatte blutunterlaufene Augen mit riesengroßen Pupillen. Eine der haarigen Hände – oder waren es Pranken? – hielt Harrys Kragen mit festem Griff gepackt. Doch ob es nun Hände oder Pranken waren, interessierte Harry in diesem Moment nicht im Geringsten.
    »Aaarrggh!«, schrie er, fuhr herum, riss sich aus den Klauen des Monsters los und rannte um sein Leben die Treppe hinauf. Er hastete durch den Vorhang, während der Mann, der auf dem Stuhl saß, ein Auge öffnete und mit kaum verhülltem spöttischen Grinsen hinter ihm herschaute. Dass Leute soreagierten, hatte Rudy Idolice schon oft erlebt, das war nur gut fürs Geschäft.

    Draußen auf der Brücke stolperte Harry den Bürgersteig entlang und konnte sich überhaupt nur dadurch im Gleichgewicht halten, dass er einen Fuß immer wieder schwer im Rinnstein aufsetzte. Sein Fuß versank dabei bis zu den Knöcheln im zähen Morast. Er fluchte, als er den Zustand seiner Stiefel sah, und erst recht, als das eiskalte Wasser durch die geplatzten Nähte und durch die Löcher für die Schnürbänder drang. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fuhr auch noch ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei, dessen Räder ihn voll Dreck spritzten. Er knirschte mit den Zähnen und klopfte sich in vergeblichem Bemühen, sich zu säubern, Hemd und Hosenbeine ab.
    Harry schwitzte stark, und im Magen hatte er ein Gefühl, als hätte sich dort etwas verknotet, das sich nur schwer würde lösen lassen. Die Geräusche der wilden Bestie dröhnten noch jetzt in seinem Kopf. Das Schlürfen und Rülpsen, das Knacken von Knochen. Und der Gestank! »Bei Gott!«, schimpfte er vor sich hin, wobei sich sein Atem um ihn wölkte. »Was für ein höllischer Gestank!«
    Das letzte Mal, als Harry etwas ähnlich Widerliches gerochen hatte, lag ein paar Jahre zurück. Damals hatte im Hochsommer drei Tage und Nächte lang kein Lüftchen über der Stadt geweht und der Fluss war fast zum Stillstand gekommen.
    Er machte sich auf den Heimweg und fiel dabei unbewusst in die eigentümliche Gangart, die für alle Einwohner von Urbs Umida typisch war: gesenkter Blick und instinktiv auf der Hut vor den buckligen Pflastersteinen und Schlaglöchern unter den Füßen. Wenigstens schneit’s nicht, dachte er. Und während er so dahinging, verfolgten ihn die Visionen dessen, was er eben gesehen hatte. Tief sog er die kalte Nachtluft in die Lungen. »O Herr im Himmel«, stieß er ein ums andere Mal aus. Sich vorzustellen, dass manche Leute immer wieder dorthin gingen, um sich das Vieh anzuschauen! »Wie können sie das tun?«, überlegte er laut. »Und warum?« Doch schon fing er an, selbst einen zweiten Besuch in Erwägung zu ziehen. Konnte die Bestie denn tatsächlich so abschreckend gewesen sein? Vielleicht würde er noch einmal hingehen, in einer Woche oder so, vielleicht in ein paar Tagen, nur um sich zu überzeugen, dass ihm seine Fantasie keinen Streich gespielt hatte …
    Den Kopf tief gesenkt gegen den beißenden Wind, bemerkte Harry den Mann nicht, der aus einer Seitengasse kam und neben ihm herging.
    »So habt Ihr es also gesehen?«, fragte der Mann.
    Erschrocken blieb Harry stehen und sah auf, doch weil sich ausgerechnet in diesem Augenblick der Mond hinter den Schneewolken verbarg und die nächste Straßenlampe ein Stück entfernt war, wirkte die Gestalt neben Harry nur wie ein Schatten an der Mauer.
    »Gesehen? Was?«
    »Das Biest«, raunte sein unbekannter Begleiter.
    »Ja«, sagte Harry, erleichtert, es laut aussprechen zu können. »Ich habe das Gefräßige Biest gesehen.« Ihm war, als hätte er gerade vor einem Priester

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