Silbertod
verlor und ihn bei seiner dürren Kehle gepackt hat?
Aber es ist nicht gut, immer wieder über diese Dinge nachzugrübeln. Im Augenblick denke ich ohnehin lieber an meine neuen Freunde, denn schon der Empfang war so gewesen, dass ich sie tatsächlich als Freunde betrachte. Juno ist eine interessante Mitbewohnerin und wir sitzen oft bis in die Nacht hinein zusammen und reden über Gott und die Welt. Sie weiß sehrviel über die Natur und deren Pflanzen. Ich habe schon eine Vorliebe für ihre Aromamischungen entwickelt – sie verhelfen wirklich zu ruhigem Schlaf – und natürlich auch für Junos persönlichen Duft, Wacholder. Sie ist von Natur aus wohl eher ernst; sie ist schlagfertig und besitzt einen scharfen Verstand. Ich glaube, wir verstehen uns jeden Tag besser.
Mr Pantagus bleibt meistens für sich; er scheint ziemlich gebrechlich zu sein. Dafür ist Beag ein ganz außergewöhnlicher Bursche und sein Talent als Unterhalter wirklich nicht schlecht. Nach dem Abendessen in Mrs Hoadswoods Küche – ihre vielen Pasteten sind immer köstlich – wird Beag meistens gebeten zu singen oder zu erzählen. Gestern Abend unterhielt er uns mit einer eigenwilligen Version von »Old Mackey Donnelly und sein Esel«. Er hat die Strophen zur Melodie von »Der wilde Wandersmann von Bally Hooley« gesungen, und wir stimmten jedes Mal in den Refrain ein. Eine Strophe war ungefähr so:
Old Mackey Donnelly
Führt sein’ Esel auf die Marsch.
Aber der Esel bockt
Und beißt ihn in den …
Dann kommt der Refrain:
Im Frühling blühn Rosen,
Im Winter fällt Schnee,
Zur Ernte komm ich wieder
Und trink mit dir Tee.
Es sind furchtbar viele Strophen, bestimmt denkt sich Beag beim Singen immer wieder neue aus. Ich finde es aber eine unterhaltsame Art, die Zeit zu verbringen. Jedenfalls lenkt sie von den Sorgen ab.
Aluph Buncombe bewundere ich mehr und mehr. Ich beobachte ihn gern bei Tisch, denn ganz im Gegensatz zu den anderen pflegt er beim Essen Umgangsformen, die mich in vielem an meine Mutter erinnern. Sie hat stets streng auf meine Manieren geachtet, und nun führt mir Aluphs Verhalten immer wieder vor Augen, was mir früher selbstverständlich war. Er hat nicht nur eine gepflegte Ausdrucksweise, er kleidet sich auch weitaus besser als wir anderen. Wie es zurzeit jenseits des Flusses Mode ist, trägt er ein Halstuch aus Spitzenrüsche, an dem eine Brosche mit einem Edelstein steckt – jeden Tag einer von anderer Farbe. Heute war es ein Rubin. Ob er echt ist, kann ich nicht sagen, in jedem Fall aber ist er sehr hübsch anzusehen. Auch an den Ärmelaufschlägen sind Spitzenrüschen und er trägt eine gut sitzende Weste mit Goldstickerei. Sein Monokel erscheint mir allerdings eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn es hängt meist nutzlos herunter, statt vor seinem Auge zu klemmen. Aluph und Beag sind trotz ihrer scheinbaren Unterschiede die dicksten Freunde. Aufgrund ihrer tiefen Überzeugung, dass jeder von ihnen zu Größerem bestimmt sei, haben sie großen Respekt füreinander.
Heute Abend wurde nicht gesungen, dafür kam es beim Essen zu einer abwechslungsreichen und höchst interessanten Unterhaltung. Als Aluph merkte, dass ich seine Kleidung bewunderte, sagte er mir das und lächelte dabei sein gewinnendes, sorgfältig eingeübtes Lächeln. Und »eingeübt« meine ich wörtlich, denn ich sehe ihn täglich vor dem Spiegel in der Diele stehen.
»Aluph ist eben nicht wie wir andern«, erklärte Mrs Hoadswood. »Manchmal denke ich, es ist eine Ehre, dass wir überhaupt mit ihm an einem Tisch sitzen dürfen.«
»Meine liebe Mrs Hoadswood, Ihr macht ja die reizendsten Komplimente«, sagte Aluph und erhellte mit seinem Lächeln den ganzen Raum. »Weißt du«, fuhr er zu mir gewandt fort, »in meinem Gewerbe ist es wichtig, dass ich mich so kleide.«
»Was ist denn Euer Gewerbe, Aluph?«, fragte ich ehrlich interessiert, denn ich wusste bisher nur, dass er keine festen Arbeitszeiten hat.
»Nun, mein lieber Junge«, sagte er, vor Selbstgefälligkeit fast überfließend, »das ist nicht so ganz einfach zu erklären.«
»Er liest Beulen«, sagte Beag kurz und bündig.
Aluph schüttelte den Kopf. »Das, Beag, trifft es ganz und gar nicht. Von einem Mann wie dir, der sich für so belesen hält, hätte ich mehr erwartet.«
»Beulen?« Ich war neugierig geworden.
»Schädelbeulen – ich meine, Schädelerhöhungen«, korrigierte sich Aluph. »Ich lese aus den Erhöhungen und Vertiefungen am Schädel der
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