Silence
lassen, wie es war. Ich fand, es war ein Eingriff in Mariana Privatsphäre, ihre Sachen zu durchstöbern und in Kartons zu packen. Zu sehen, wie meine Mutter alles, was der älteren Dame am Herzen lag, in trostlose Schachteln packte, zerriss mir das Herz. Es hatte etwas so Endgültiges.
Meine Mutter hatte in ihrer gewohnt kühlen Art geantwortet: »Wir müssen das Zimmer für die neue Hilfe vo rbereiten.«
»Aber in diesem Haus gibt es so viele andere Zimmer, die niemand nutzt«, hatte ich aufgebracht geschrien.
»Das hier ist das Zimmer für das Personal.«
Personal. Diese Bezeichnung hatte mich hart getroffen. Mariana war für mich so viel mehr als »Personal«. Sie war für mich die Frau, die mich großgezogen, mich mit Liebe überhäuft hatte, für mich da gewesen war, wenn es mir schlecht ging. Die neben mir am Bett saß, wenn ich krank war. Sie war für mich all das, was meine Mutter nicht war.
Ich verstand nicht, wie meine Mutter nach all den Jahren, in denen die alte Dame für unsere Familie da gewesen war, einfach so weiter machen konnte. Als wäre Mariana austauschbar wie ein Möbelstück.
Das Licht ging an und blendete mich. Ich blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an und es dauerte ein wenig, bis ich wieder etwas sehen konnte. Seit einigen Tagen waren meine Augen merkwürdig lichtempfindlich. Ich vermutete, es hatte etwas mit den ständigen Kopfschmerzen zu tun, die meine neue Gabe begleiteten.
Staubkörnchen tanzten im Lichtschein. Es war Jahre her, seit ich hier oben war, und doch hatte sich kaum etwas verändert. Da stand immer noch das alte Polstersofa aus der Gründerzeit unter dem kleinen Dachfenster, auf dem ich oft eingeschlafen war. Davor die große hölzerne Schiffstruhe mit den Dingen, die meine Mutter als Erinnerungsstücke bezeichnete. In der Ecke das rosafarbene Regal, das einmal in meinem Zimmer gestanden hatte und meine Plüschtiere beherbergten.
Als ich die Truhe öffnete, lagen obenauf meine alten Barbiepuppen. Die Barbie im weißen Brautkleid, mit der ich am liebsten gespielt hatte. Und die Barbie mit dem Meerjungfrauenschwanz. Auch der Plüschwolf, den mein Vater mir einmal zum Geburtstag geschenkt hatte.
Er hatte mich mit dem Auto vom Kindergarten abgeholt. Er hatte gesagt, heute dürfe ich ausnahmsweise einmal vorne neben ihm sitzen, weil mein Geburtstag sei. Und als ich die Beifahrertür des Volvos geöffnet hatte, saß auf meinem Kindersitz dieser Wolf.
Ich nahm ihn aus der Kiste und setzte ihn neben die Dachluke, um ihn später in mein Zimmer mitzunehmen.
Neben der Truhe standen die Kartons, wegen denen ich eigentlich hier hochgekommen war. Mariana wenige private Besitztümer. Ich zog sie vorsichtig vor das alte Sofa und starrte sie einige Zeit an. Es fühlte sich komisch an, zu wissen, dass dies alles war, was von ihr geblieben war. Viele Gegenstände in diesen Kartons bargen Erinnerungen und Geschichten, die mit Mariana gestorben waren. Die niemand außer sie gewusst hatte und die für immer verloren waren.
Nach eine m tiefen Atemzug öffnete ich den ersten Karton. Er enthielt Mariana Kleidung. Ich nahm den schwarzen Seidenschal heraus, den sie immer getragen hatte, wenn sie das Haus verlassen hatte. Die feinen silbernen Fäden, die den Stoff durchzogen, glitzerten im Licht der Glühbirne über meinem Kopf. Ich drückte den Schal an meine Wange. Er war kühl und glatt und duftete nach Mariana Parfüm. Eine Träne rollte über meine Wange. Ich vermisste Mariana so sehr. Seit sie gegangen war, war mein Leben noch einsamer geworden.
Dann entdeckte ich ein Fotoalbum. Ich blätterte es durch. Auf jeder Seite waren Bilder ihrer Kinder. Als ich die letzten Seiten erreichte, stellte ich verwundert fest, dass diese mit Fotos aus meinen Kindheitst agen gefüllt waren. Es war fast, als hätte sie in mir ihre Tochter gesehen.
Gerührt strich ich mit den Fingern über ein großes Foto von einer Frau, die ein Baby in den Armen hielt. Ich löste es aus den Fotoecken und betrachtete das schöne Gesicht. Es war wie eine Art Déjà-vu. Ich hatte das Gefühl, die Frau zu kennen, konnte mich aber nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie hatte dunkelbraunes, volles Haar, das ihr bis auf die Brust reichte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
Eine Erinnerung flackerte in mir auf. Eine Frau, die vor mir kniete und mir die Schuhe zuband. Als sie ihr Gesicht hob, blickte ich in das Gesicht der Frau, deren Bild ich gerade in Händen hielt. Sie war die Besucherin aus
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