Silence
froh gewesen, dass der Unterricht endlich begann und ich so von Giovannis Bruder wegkam, und jetzt das.
Mit rotem Kopf ging ich nach vorne, wo Ermano schon mit einem Grinsen auf mich wartete. Gestern Morgen, als die beiden vor der Klasse standen, dachte ich noch; nichts ist schlimmer, als sich vor Fremden vorstellen zu müssen. Das hier dürfte wohl das Gegenteil beweisen. Ich blieb einige Schritte von dem griesgrämigen Italiener entfernt stehen und schaffte so eine Pufferzone zwischen uns.
Mrs. Walsh reichte uns jedem ein Buch und zeigte auf die Szene, die wir nachspielen sollten. Die Balkonszene natürlich.
Ermano warf mir einen kurzen, abschätzigen Blick zu, räusperte sich und begann zu lesen: »Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt. Doch still, was schimmert durch das Fenster dort …«
Vor der Klasse zu stehen und etwas laut vortragen zu müssen, war für keinen Teenager einfach, aber noch schwerer gestaltete sich das für jemanden, der vor Menschen stand, deren Gesichter und Gedanken widerspiege lten, wie tief ihre Abscheu war. Meine Augen fest auf das Buch in meinen Händen gerichtet, wagte ich kaum zu atmen, geschweige denn, den Blick zu heben und meine Mitschüler anzuschauen. Als die Buchstaben vor mir begannen zu verschwimmen, hob ich den Kopf und richtete meine Augen auf Kate, die mir aufmunternd zunickte.
Giovanni, der direkt vor uns saß, warf seinem Bruder finstere Blicke zu, während dieser feixte.
Ich versuchte nur auf Ermanos Worte zu hören, um meinen Einsatz nicht zu verfehlen. Leider konnte ich trotz allem hören, wie Michelle dachte: Ich wäre eine bessere Julia gewesen.
»Ich sagte: Und küsste diese Wange!«, wiederholte Ermano den letzten Satz lauter.
»Oh«, sagte ich beschämt, hüstelte und wollte gerade mit dem Lesen beginnen, als Mrs. Walsh Ermano und mich so ausrichtete, dass wir uns nahe gegenüberstanden, fast Nase an Nase.
Ich hob den Kopf von meinem Buch und mein Blick traf Ermanos. Für Sekunden war es wie in einem Film. Die Zeit stand still. Ermanos Augen bohrten sich in meine, bis er seine Augenbrauen zusammenzog und das Gesicht von mir abwandte.
Nervös senkte ich den Blick auf das Buch in meinen Händen.
Ich räusperte mich noch einmal, holte tief Luft und begann zu lesen. »Weh mir«, flüsterte ich mit gesenktem Blick.
Kichern aus dem Publikum. Mein Atem ging viel zu schnell und ich wünschte, ich könnte mich näher an Ermano drängen, so wie heute Morgen bei Giovanni, um mich vor meinen Mitschülern verstecken zu können. Stattdessen warf ich Kate einen flehenden Blick zu, die mir aufmunternde Worte in meinen Kopf schickte.
»Horch! Sie spricht. O sprich noch einmal, holder Engel«, fuhr Ermano fort.
Ich rappelte mich zusammen, ignorierte, wo ich mich befand, und boxte mich durch. Die nächsten Sätze sprach ich laut und mit Betonung auf den Worten, wo es mir richtig erschien.
»O Romeo. Warum denn Romeo …« Das hier übertraf wirklich alles je Dagewesene an Peinlichkeit.
Die Minuten vor der Klasse wurden zur Ewigkeit und meine Hände waren schweißnass. Schweißbäche rannen unter meinen Achseln und meine Beine fühlten sich zittrig an.
Mrs. Walsh übernahm den Part der Wärterin von Julia und machte keine Anstalten, mein Leiden zu verkürzen, indem sie uns unterbrach.
»Wär ich dein Vögelchen!«, las Ermano und grinste. Ein Lachen ging durch die Klasse.
»Ach wärst du´s Liebster!« Noch mehr Gelächter.
In Giovannis Nähe fiel es mir erstaunlich leicht, die Gedanken der anderen fernzuhalten. Als er sich zu Beginn der Stunde von mir löste, um hinter seiner Bank Platz zu nehmen, war es, als löste sich ein unsichtbarer Schutzschild und die fremden Stimmen drangen wieder in meinen Kopf. Jetzt stand ich seinem Bruder fast genauso nahe gegenüber und bemerkte, dass auch er über diesen Schutzschild verfügen musste. In meinem Kopf waren nicht mehr die Stimmen der Schüler, nur noch Ermanos Stimme, die Worte, die er las. Das half mir etwas, mich zu entspannen und mich besser auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Je näher wir dem Ende kamen, desto ruhiger wurde ich, was meiner wackeligen Stimme zugute kam.
»Mein Glück ihm sagen und um Hülf ihn flehen«, las Ermano den letzten Satz und Erleichterung durchströmte mich - fertig.
Ich blickte von meinem Buch auf und meine Augen streiften einen Moment Giovannis. Sein Blick wurde ernst. Dann zog er die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben. Er legte seine geschlossene Hand auf die Tischplatte und
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