Silence
eingestehen wollte. Vielleicht war mir mein »Fluch« doch nicht so verhasst, wie ich angenommen hatte. Vielleicht war mir nur die Angst vor dem, was andere über mich denken könnten verhasst.
Sobald ich mich nicht mehr konzentrierte, war es wieder still in meinem Kopf. Vielleicht hatte Kate recht und ich begann zu lernen, wie ich mich vor fremden G edanken abschirmen musste.
Mit etwas Stolz und einem breiten Grinsen im Gesicht folgte ich Giovanni weiter über den Schulhof.
Giovanni steuerte zielstrebig auf seinen Bruder zu, der etwas abseits der anderen Schüler stand und Giovanni einen missbilligenden Blick zuwarf.
»Giovanni.« Das klang mehr nach einem Vorwurf als nach einer Begrüßung. Ermano stand lässig an einen schwarzen Golf gelehnt, die Hände in seiner Jacke vergraben. Er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und bemühte sich, mich zu ignorieren.
Nur wenige Schüler in Silence verfügten über eigene Autos. Nicht, dass sie sich kein Gefährt leisten konnten, Silence war so klein, dass man alles hier auch gut zu Fuß erreichen konnte. Alles außerhalb von Silence war mindestens zwei Stunden mit dem Auto entfernt. Zu weit, um mal kurz Shoppen zu fahren. Wie ein Baby in seiner Wiege lag die Kleinstadt eingebettet in einen großen Wald am Rande des Pisgah National Forest. Nur eine einzige Straße führte in die Stadt hinein und wieder hinaus. Die nächste größere Stadt war Brevard.
»Ermano«, lächelte Giovanni und in seinem Blick lag etwas Merkwürdiges. Eine Mischung aus Hochmut und Unsicherheit.
Ermano musterte mich nun doch, dann starrte er seinen Bruder fast vorwurfsvoll an, während dieser grinsend zurückstarrte. Es war fast, als würden sie stumm, ohne die Lippen zu bewegen, ohne Worte auszusprechen ein Gespräch führen. Irgendetwas bekam ich eindeutig nicht mit. Ich fühlte mich plötzlich genauso unerwünscht, wie gestern, als Michelle sich in der Cafeteria an unseren Tisch gesetzt hatte.
Giovanni schien meine Unsicherheit zu spüren und zog mich näher an sich heran, als wollte er mich beschützen oder seinem Bruder verdeutlichen, dass ich zu ihm gehörte. Das schmeichelte mir, konnte aber nicht meine Nervosität, die ich wegen Ermano verspürte vertreiben.
Sein Bruder kniff die Augen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und sandte Blitze in Giovannis Richtung. Mich überlief ein Schaudern. Vielleicht hatte seine abweisende Haltung doch nichts mit mir zu tun. Mir fiel die Szene von gestern wieder ein. Auf mich hatte es gewirkt, als hätten sie wegen irgendetwas gestritten.
Ermano runzelte die Stirn und diesmal traf sein Blick mich. Naja, es konnte auch möglich sein, dass er mit uns beiden ein Problem hatte. Ich zuckte leicht zurück, straffte aber gleich die Schultern und beschloss, es Ermano mit gleicher Miene zurückzuzahlen. Also machte ich ein ebenso verkniffenes Gesicht wie er.
Ermano legte noch eine zusätzliche Spur Hass in sein Mienenspiel. Aber ich gab nicht nach und schlug mich wohl respektabel, denn um Ermanos Mundwinkel zuckte es, bevor er seine Gesichtsmuskeln dann entspannte. Ich hatte unseren kleinen Wettstreit gewonnen. Schlauer war ich trotzdem noch nicht aus ihm geworden. Ich wusste nur, dass sich hier etwas hinter den Kulissen abspielte, wovon ich keine Ahnung hatte.
In der ersten Stunde hatten wir Englisch bei Mrs. Walsh. Sie las aus Romeo und Julia vor und tat das mit einer Liebe zum Stück, dass ich das Gefühl bekam, einer Theateraufführung beizuwohnen. Der ungewöhnliche, schwer verständliche Stil des Stücks beschäftigte meinen Kopf so sehr, dass ich die Gedanken meiner Mitschüler gut ausblenden konnte.
Mit dem Buch in der Hand schritt Mrs. Walsh vor der Klasse auf und ab. Immer wieder blieb sie kurz stehen, um mit der freien Hand irgendwelche Bewegungen durchzuführen, die das Vorgelesene noch untermalen sollten. Ihr rötliches Haar fiel ihr dabei in die Stirn. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, die Strähnen aus ihren Augen zu halten.
»Ja, es ist vergeblich, ihn zu suchen, der nicht will gefunden sein.« Mrs. Walsh unterbrach ihre Wanderung vor der Klasse, wandte sich ihren Schülern zu und seufzte. »Die nächste Szene hätte ich gerne von zwei Schülern vorgetragen gesehen.« Sie blickte sich in der Klasse um. Ihre Augen blieben auf mir hängen. »Lisa, kommst du bitte nach vorne. Hmm … und du, Ermano. Ja, ich denke, das passt«, nickte sie zufrieden mit ihrer Wahl.
Mir rutschte das Herz in den Magen. Gerade war ich noch
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