Silence
meinen Kindheitstagen, die meine Mutter so umschwärmt hatte. Ich drehte das Bild herum, um die Rückseite zu betrachten. Dort stand nur: Lissianna. Mein Name.
3 . Kapitel
Wie immer frühstückte ich allein. Mein Vater, der Bürgermeister von Silence, und meine Mutter, seine getreue rechte Hand, verbrachten nicht viel Zeit mit ihrer Adoptivtochter. Keine Sache, die mich störte, und noch weniger, seitdem ich erfahren hatte, dass ich nicht ihre richtige Tochter war. Manchmal ritt mich der Teufel und ich glaubte, das wäre der Grund für ihr geringes Interesse an meiner Person. Aber die meiste Zeit wusste ich, sie genossen ein hohes Ansehen in der kle inen Stadt und nahmen die Sorgen der Bürger immer ernst. Wenn diese auch noch so klein waren. Da ihnen ihre Arbeit und Silence am Herzen lagen, arbeiteten sie oft von früh morgens bis spät abends. Ein Familienleben gab es nicht mehr. Solange Mariana noch da war, hatte mich das auch nie gestört, oder nur wenig. Doch jetzt …? Manchmal brauchte selbst ich jemanden, der mich in die Arme nahm, mich tröstete, mir Mut zusprach. Ich konnte nicht all meine Sorgen auf Kate abwälzen.
Nachdem ich mein Frühstück hinuntergeschlungen hatte, duschte ich und stand dann erstmals seit Langem vor der bedeutsamen Frage: Was soll ich anziehen? Bisher hatte ich mir nie viele Gedanken darüber gemacht, welche Kleidung ich in der Schule trug. Nicht im letzten Jahr. Da hatte ich es vermieden, mich auffällig zu kleiden. Meine Kleidung der letzten Monate bestand aus schlichten, schlappigen Pullis und Jeans. Doch heute war es mir wichtig. Und vielleicht, aber nur vielleicht, hatte das etwas mit einem gewissen Italiener zu tun.
Nachdem ich einige Stapel meiner Bloß-Nicht-Auffallen-Kartoffel-Säcke beiseite geschoben und mich zu den Sachen vorgewühlt hatte, die ich früher getragen hatte, wagte ich es dann doch nicht, wieder in das Outfit einer typischen Highschool-Queen zu schlüpfen. Ich entschied mich für einen langen Strickpullover, der bis kurz über die Knie reichte, in der Farbe von Milchkaffee, eine dicke Strumpfhose, einige Nuancen dunkler, und ein paar hohe schwarze Stiefel.
Ich betrachtete mich im Spiegel meines Ankleidezimmers, welches gleich an mein Schlafzimmer grenzte, und war zufrieden. Meine frisch gefärbten kastanienfarbenen Haare hatte ich lose hochgesteckt. Ein paar Strähnen fielen um mein herzförmiges Gesicht und meine moosgr ünen Augen leuchteten wie schon lange nicht mehr. Auf Make-up verzichtete ich weitestgehend. Nur meine Wimpern betonte ich mit schwarzer Tusche.
Mit Schwung riss ich die Tür auf, um hinaus in einen herrlich sonnigen Herbsttag zu treten. Ich prallte gegen Giovanni, der gerade im Begriff war zu klingeln.
»Das wird langsam zur Gewohnheit«, grinste er.
Ich spürte, wie mein Gesicht von Hitze überzogen wurde.
»Tut mir leid«, stammelte ich unsicher. »Was machst du hier?«
»Begleitschutz. Ich dachte, du könntest einen Retter brauchen.« Giovannis Augen strichen über mein Outfit und blieben an meinem Hals hängen, der vom Rollkragen des Pullovers verdeckt wurde. »Du siehst toll aus, aber ich mag es viel lieber, wenn ich deinen Hals betrachten kann.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an.
»Ich … Ich …«, stammelte ich. »Wir sollten losgehen«, brachte ich endlich heiser hervor.
»Ja, sollten wir.« Giovanni zog meine Schultasche von meiner Schulter, schloss die Tür hinter mir und lief schweigend neben mir her.
Als wir den Schulhof betraten, ruhte ein Meer von Augen auf uns. Ich konnte spüren, wie mich fragende und verhasste Blicke durchbohrten. Doch da waren keine Gedanken, die auf mich einstürzten. In meinem Kopf herrschte Ruhe. Konnte ich keine Gedanken mehr hören? War diese Fähigkeit über Nacht verschwunden? Ich wusste nicht, ob es mich freuen sollte, oder ob ich schockiert darüber sein sollte. Nur meine eigenen aufgeregten Gedanken waren da. Nervös konzentrierte ich mich, um i rgendetwas zu hören. Erst als ich nahe an den ersten Schülern vorbei kam, konnte ich ihre missbilligenden Gedanken hören: Wie kommt die Todesfee an Giovanni? Kennen die sich schon länger?
Erleichtert atmete ich aus, obwohl die Bezeichnung Todesfee nicht dazu beigetragen hatte. Mir war bis dahin nicht bewusst gewesen, dass ich mich mehr mit dieser Gabe arrangiert hatte, als ich dachte. Aber eigentlich hatte ich schon länger immer wieder unbewusst g ebrauch von dieser Fähigkeit gemacht, auch wenn ich es mir nicht
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