Silence
Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Ich bin eine Irre. Ich kann Gedanken lesen und gerade habe ich gesehen, woran ich schuld war. Als ob ich das nicht wüsste. Ich weiß es jeden Tag meines Lebens. Ich habe Kelly getötet.
7. Kapitel
Natürlich hatte ich es auch in den letzten Wochen immer und immer wieder mal kurz in den Gedanken der Menschen aus Silence lesen können. Aber nicht so. Nicht so wie heute. Hier am Ort meiner Schande, mit so vielen Zeugen, die alle gleichzeitig daran zurückdachten, war es, als erlebte ich es gerade erst. Als wäre es eben erst passiert. Und noch schlimmer, denn ich konnte sehen, was ich selber nicht mehr wusste, weil ich zu z ugedröhnt war, um mich wirklich daran zu erinnern.
Ich konnte Jason und mich sehen, wie wir den Garten der Prices betraten – Hand in Hand. Wir waren beide vollgepumpt mit Ecstasy. Wobei das nicht der wirkliche Grund für die schockierten Blicke war. Der Grund war Jason. Er war der Außenseiter in Silence. Der Rebell. Er hatte die Schule mit siebzehn abgebrochen, prügelte sich gern, war ständig betrunken und verkehrte mit einer Gang aus Brevard.
Niemand wollte Jason gerne in seinem Haus haben und ich hatte ihn mit auf Michelles Party gebracht. Ihn und die Drogen. Ich, die Vorzeigeschülerin aus Silence und Tochter des Bürgermeisters, hatte mich mit dem stadtbekannten Rowdy eingelassen.
Kelly war damals siebzehn – ein Jahr älter als wir anderen. Ich glaube, ein wenig durchgedreht war sie schon immer gewesen. Zumindest fand sie es cool, sich mit verrückten Aktionen in den Mittelpunkt zu drängen. Sie fühlte sich von dem Außenseiter angezogen und Jason gab ihr das Gefühl dazuzugehören. Wenn ich nicht so high gewesen wäre, dann hätte ich niemals zugelassen, dass Kelly sich die bunten Pillen einwarf.
Wir lagen auf der Wiese beim Pool und feierten unsere eigene Party. Party feiern war meine Methode gewesen zu vergessen, dass Mariana zu Hause im Sterben lag. Feiern war etwas, was ich mir damals fast täglich gönnte. Die meisten anderen ignorierten uns. Jason und ich waren tief versunken in einer Knutscherei, als jemand schrie. Alle kamen angerannt, starrten wie gelähmt in den Pool, in dem ein Körper trieb. Nur Matt reagierte sofort und sprang ins Wasser, um Kelly herauszuziehen. Sofort begann er mit der Wiederbelebung. Michelle sank fassungslos auf dem Boden neben ihrer Freundin zusammen und strich ihr wieder und wieder über ihr blondes Haar, das wie ein Fächer auf den dunklen Granitplatten ausgebreitet war. Kurz darauf kam der Notarzt und stellte Kellys Tod fest. Jason und ich landeten im Krankenhaus. Meine Eltern zwangen mich zu einer Therapie und sprachen nie wieder über diesen Vorfall.
Dabei war es genau das, was ich wollte – reden. So wie früher, als ich noch klein war. Bevor Silence und seine Einwohner wichtiger wurden als ich. Ich wollte nicht mit den Therapeuten reden. Ich wollte mit meinen Eltern reden. Doch meine Mutter ließ das nicht zu.
Mein einziger Halt in der Anstalt war Larissa. Sie brach kurz nach diesen Ereignissen zusammen und bis heute gebe ich mir die Schuld daran. Auch wenn sie immer wieder beteuerte, dass Kellys Tod nicht der Grund dafür war, dass auch sie eine Therapie benötigte. Aber sie hatte mir auch keinen anderen Grund genannt.
Kate und Larissa waren die Einzigen, die mir durch diese Zeit halfen. Sie waren überzeugt, dass nicht ich schuld an Kellys Tod war, sondern meine Adoptiveltern, die mich mit der Sorge um Mariana allein gelassen hatten. Aber nicht sie hatten die Drogen mitgebracht, ich war es.
Die Zeit in der Klinik war die schwerste Zeit meines Lebens. Nicht wegen des Entzugs, sondern wegen all der Gespräche, die ich mit Fremden Menschen führen musste, statt sie mit meinen Eltern führen zu können. Ich brauchte meine Eltern damals mehr denn je, doch sie waren nicht für mich da.
Ich musste damals zusehen, wie Mariana, die einzige Mutter, die ich hatte, mit jedem Tag mehr verging, während meine Eltern weitermachten wie bisher. Einige Wochen bevor Mariana starb, gestand sie mir: »Deine Eltern sind nicht deine Eltern. Ich würde dir gerne alles sagen, aber du musst es selbst herausfinden.«
Auch Ermano hatte gesagt, ich würde es herausfinden? Was herausfinden?
Ich stolperte mehr als ich rannte nach Hause. Den ganzen Weg über verfolgten mich die toten Augen, die blauen Lippen und die kalkweiße Haut von Kelly. Und ich wusste, ich war schuld. Niemand anderen traf die Schuld an dieser
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