Silence
Gedanken gelesen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich muss jetzt gehen.« Ermano strich mir kurz über die Wange.
Ich schnappte heftig nach Luft.
»Nein. Ich lasse das nicht zu. Ihr könnt mich nicht alleine lassen. Nicht jetzt.«
Ich war außer mir vor Panik. Wenn ich zuließ, dass Ermano und Giovanni verschwanden, wer sollte mir dann helfen? Noch viel weniger wollte ich, dass sie mich allein zurückließen. Was würde aus mir werden, wenn sie nicht mehr da waren?
»Wir sind Vampire. Und genauso, wie wir wissen, was sie sind, wissen sie, was wir sind. Dieser Krieg dauert jetzt schon seit Jahrhunderten an«, sagte Ermano ruhig.
»Ich weiß von keinem Krieg. Was für ein Krieg? Sind wir eine Stadt von Van Helsings?«
»Nein. In diesem Krieg sind wir die Bösen.«
Ermano griff nach meiner Hand und zog mich näher. Ich kuschelte mich an seinen Körper und weinte hemmungslos. Wenn das so weiterging, würde ich noch den Ruf einer Heulsuse bekommen.
»Was bin ich? Sag es mir«, flehte ich ihn an.
Ermano küsste mich sanft auf den Haaransatz. »Mein Feind.«
»Das ist nicht wahr!«, rief ich. Ich löste mich aus seiner Umarmung und lief durch mein Zimmer. »Ich könnte niemals dein Feind sein.«
Ermano sprang auf, die Augen erschrocken in Richtung Flur. Ich musste nicht fragen, um zu wissen, dass meine Eltern nach Hause gekommen waren (und das zu für ihre Verhältnisse früher Zeit). Diesen Blick hatte ich schon einmal an ihm gesehen.
»Ich muss gehen«, flüsterte er.
»Nein!«, schrie ich verzweifelt und warf mich an Ermanos Hals. Ich wollte ihn festhalten, ihn nie wieder loslassen, denn ich wusste, wenn er jetzt gehen würde, dann wäre er für immer aus meinem Leben verschwunden. »Bitte geht nicht«, flehte ich ihn an. Ich wusste, dass ich eigentlich wollte, dass Giovanni nicht ging, aber auch Ermano würde mir fehlen.
»Wir müssen.« Ermano hielt mich fest in seinen Armen.
»Wann?«, flüsterte ich und fühlte mich so hilflos wie nie zuvor. Alles um mich herum brach zusammen, und jetzt wo Kate nicht mehr da war und ich in eine unbekannte Zukunft blickte, brauchte ich jemanden, dem ich vertrauen konnte. Und derzeit waren da nur Giovanni und Ermano, die zumindest ansatzweise versuchten, mir zu helfen.
»Schon morgen. Je eher wir gehen, desto besser.«
»Nein.«
»Ich muss gehen. Sie kommen hoch. Sie sind schon auf der Treppe.« Ermano versuchte, sich aus meiner Umklammerung zu lösen. Wie eine Ertrinkende krallte ich mich im Leder seiner Jacke fest. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich ihn gehen lassen musste, wenn ich nicht riskieren wollte, dass etwas Schlimmes geschah. Aber ich hatte nicht die Kraft ihn loszulassen.
Ermano schaffte es, sich zu befreien, und trat vor die Balkontür. Ich konnte die Tränen in seinen Augen sehen, den Schmerz, den dieser Abschied ihm bereitete, und ich wusste, dass es ihm genauso schlecht dabei ging wie mir. In der kurzen Zeit, die wir drei zusammen hatten, waren mir die Brüder ans Herz gewachsen. Es war mir mittlerweile völlig egal, was sie waren. Sie waren die einzigen, die mir helfen konnten.
Als ich die Augen wieder öffnete, war ich allein im Zimmer.
1 6. Kapitel
»Was war hier los?«, donnerte meine Mutter hinter mir. »Hatte ich dir nicht ausdrücklich verboten, dich mit diesen Jungs herumzutreiben?« Meine Mutter betrat mein Zimmer. Ihr fein geschnittenes Gesicht war vor Wut entstellt.
Ich ignorierte sie einfach, ging auf meinen Schreibtisch zu und schaltete meinen Laptop ein. Mein Vater schien sich auch zu unserer kleinen Gruppe gesellen zu wollen, denn er übernahm jetzt das Schimpfen.
»Deine Mutter redet mit dir.« Seine tiefe ruhige Stimme hatte ich bisher immer geliebt. Früher hatte er mir stundenlang aus Büchern vorgelesen und ich lag neben ihm auf dem Bett und lauschte andächtig. Jetzt, in diesem Moment, hasste ich ihn dafür, dass er Partei für meine Mutter ergriff. In den seltenen Gelegenheiten, da er mal zu Hause war, seit er Bürgermeister von Silence wurde, hatte er immer hinter mir gestanden. Dass er jetzt die Seiten wechselte, fühlte sich wie Verrat an.
»Ich rede nicht mit ihr.« Der Laptop war inzwischen hochgefahren. Ich startete in aller Ruhe mein E-Mail-Programm. Solange Tränen über mein Gesicht liefen, wollte ich keinen der beiden ansehen.
»Warum war er hier?«, fragte mein Vater ruhig. Er stand jetzt hinter mir. Seine Hände ruhten auf meinen Schultern.
»Um auf Wiedersehen zu sagen«, schrie ich außer mir vor
Weitere Kostenlose Bücher