Silence
erre ichen«, plauderte ich betont belanglos.
»Nein, das heißt, du wirst deine Schule dort abschließen«, sagte meine Mutter frostig.
»Eigentlich bleibt uns keine andere Wahl«, fügte mein Vater mitleidig hinzu.
Ich schwieg, betrachtete meine Fingernägel und machte mir geistig ein Memo, mich mal wieder mit Nagelpflege zu beschäftigen. Nur nicht die Kontrolle verlieren. Ruhig atmen.
»Dein Flug geht morgen Abend. Bitte packe nur das Nötigste ein. Du wirst dort bekommen, was du brauchst.«
Keine Spur von Mitleid in der Stimme meiner Mutter. Kein: Bist du einverstanden uns zu verlassen? Kein: Wir werden dich vermissen. Keine Zeit für Abschied. Ob Kate auch so überfallen wurde?
Ich antwortete langsam und im selben kalten Tonfall wie meine Mutter, was mich einiges an Selbstbeherrschung kostete.
»Mir gefällt es in Silence ganz gut. Ich sehe keinen Grund, warum ich hier weggehen sollte. Die Silence High ist eine gute Schule. Warum also wechseln?«
Meine Mutter antwortete ungerührt: »Weil es sein muss.«
Tolle Antwort. Jetzt wusste ich genauso viel wie vorher. Ich hätte ihr gerne ein paar unschöne Dinge an den Kopf gesagt, aber ich schwieg aufgrund meiner guten E rziehung, die ich Mariana verdankte.
»Du wirst keine andere Wahl haben. Das war schon immer so geplant. Es ist eine Art Familientradition.« Mein Vater gab sich Mühe, ruhig zu klingen, aber ich konnte das leichte Zittern in seiner Stimme hören.
»Familientradition? Du meinst wohl eher Silence-Tradition.«
Jetzt war es vorbei mit der Selbstbeherrschung. Ich sprang von meinem Sessel auf. Mit einer einzigen Handbewegung fegte ich den Schreibtisch leer. Die säuberlich sortierten Unterlagen meines Vaters landeten in einem heillosen Durcheinander auf dem dunklen Holzboden. Mit meinen Händen stützte ich mich schwer auf der Tischplatte ab und kämpfte um Fassung. Verwirrt musste ich feststellen, dass von der sonst so ruhigen und g elassenen Lisa nichts mehr da zu sein schien.
Der heutige Tag hatte so viel von mir gefordert, dass ich kaum genug Kraft hatte, mich aufrecht zu halten. Auch wenn ich erwartet hatte, dass ich irgendwann auf dieses Internat sollte – und ehrlich, bevor mir all diese Dinge passiert sind und ich dachte, diese Schule wäre eine ganz normale Schule, nur eben weit weg von Silence, hätte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als dieses Internat – jetzt, nachdem ich wusste, dass dort etwas nicht so lief, wie es sollte, hatte ich wenig Lust dazu, mich dort einsperren zu lassen.
»Was ist dran an diesem Internat? Warum wurde Kate - und jetzt auch ich - so von heute auf morgen, ohne Vorwarnung dorthin geschickt?«, schrie ich, ohne jemanden Bestimmtes anzuschauen.
Wir sollten es ihr sagen, damit sie es versteht , dachte mein Vater. Ich hielt es für einen Zufall, dass ich gerade jetzt, zum ersten Mal überhaupt, die Gedanken meines Vaters lesen konnte, doch dann …
Du kennst die Gesetze. Und wer würde sich noch daran halten, wenn selbst wir uns nicht nach ihnen richten. Wir sind diejenigen, die hier in Silence dafür sorgen, dass alles seinen Gang geht , antwortete meine Mutter.
Ich beugte mich nach vorne, runzelte die Stirn und war fassungslos. Hatte ich mich geirrt?
Meine Eltern schienen meine Verwirrung nicht zu bemerken, dabei stand mein Mund weiter offen als die Feuerwehrgarage.
Sie fliegt schon morgen. Wem sollte sie noch davon erzählen? , dachte mein Vater. Er nahm die Hand meiner Mutter und drückte sie. Seine Augen schienen die Frau neben ihm anzuflehen.
Meine Mutter blickte mich an und ich konnte gerade noch rechtzeitig meinen Mund schließen und so tun, als würde ich die Bücher im Regal hinter meinen Eltern zählen.
Etwas regte sich im Gesicht meiner Mutter. Ich konnte den inneren Kampf fast fühlen, aber nicht lesen. Wie machten sie das nur? Sie schienen das Gedankenlesen an und ausschalten zu können, wie sie es gerade wollten. Meine Mutter starrte mich an, ihre Finger bohrten sich in das Leder des Sessels.
»Also gut.« Sie stand auf, kam hinter den Schreibtisch und stellte sich vor das Fenster, so dass ich nur noch ihren schmalen Rücken sehen konnte. »Vielleicht fangen wir am besten bei deinen Eltern an.«
Wie passend. Meine Eltern wären die Nächsten gewesen, die ich angesprochen hätte. Ich lehnte mich im Ledersessel zurück und verschränkte trotzig die Arme. Es sollte ja niemand den Eindruck bekommen, ich wäre zu interessiert an dem Thema. Und da stand ja auch noch die
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