Silence
Mein Magen gab extra für Greta eine Vorstellung.
»Der ganze Ärger tut mir wirklich leid, den ich dir da gemacht habe«, sagte Greta, während sie mir einen Teller Spaghetti Bolognese überreichte.
Mit meinem Essen setzte ich mich auf einen der hohen Barhocker vor der kleinen Theke. Von hier konnte ich Greta besser im Blick behalten.
»Mrs. Walsh hat heute Mittag angerufen. Sie war besorgt, weil du in letzter Zeit öfters früher die Schule verlassen hast. Ich hab deinen Eltern Bescheid geben müssen. Ich weiß, du machst viel durch. Rede mit ihnen. Hab keine Furcht davor. Sie sind deine Eltern.«
Bei Greta klang das so einfach. Aber in meiner Vorstellung kam das einem Seelenstriptease gleich. Als ich das letzte Mal ein Problem hatte und versuchte, mit ihnen darüber zu reden, hatte meine Mutter mich mit einem »Du wirst damit fertig« abgestempelt und mein Vater ganz geschwiegen. Zumindest in meiner Fantasie reagie rten normale Eltern anders auf die Information, dass ihre Tochter vielleicht schuld am Tod einer Mitschülerin war, Drogen nahm und sich mit einem stadtbekannten Rowdy eingelassen hatte. Wie sie also auf »Ich kann Gedankenlesen« reagieren würden, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Vater würde mit den Fingern durch die schwarzen Stacheln seiner Haare kämmen und meine Mutter würde sagen: »Du wirst damit fertig.« Danach würde sie zum Telefon greifen und mich einsperren lassen. Die nächste Bürgermeisterwahl stand vor der Tür.
Manchmal kam es mir so vor, als wäre nicht mein Vater der Bürgermeister, sondern meine Mutter. Ansehen war für sie alles. Das Image musste gepflegt werden. Probleme hatte ihre Tochter nicht. Und hatte sie doch welche, dann wurden sie ignoriert. Denn was man nicht bemerkte, existierte auch nicht. Umso mehr wunderte mich, dass sie jetzt plötzlich ein Gespräch wollte.
Als ich klein war, war das anders. Wir waren eine ganz normale Familie. Am Wochenende machten wir Ausflüge. Am Abend spielten wir Twister. Meine Mutter sang mit mir Kinderlieder, mein Vater tobte mit mir durch das große Haus. Ich hatte mich immer auf dem Dachboden hinter ein paar Kisten versteckt und Vater tat so, als wüsste er es nicht. Dann wurde mein Vater Bürgermeister und alles war anders. Ich verstehe bis heute nicht warum. Es war, als hätte irgendjemand mit einem Skalpell einen Schnitt durch unser Leben gemacht und das Damals gekonnt vom Heute getrennt. Im Damals hatte ich Eltern, die mich liebten und für mich da waren, und im Heute hatte ich nur noch Mariana, Kate und Larissa.
»Wie du mittlerweile weißt, ist Kate in Füssen. Sie besucht dort eine Internatsschule«, begann meine Mutter.
Sie trug ihr himmelblaues Kostüm und hatte in einem der Ohrensessel vor dem Schreibtisch meines Vaters Platz genommen. Mein Vater saß im zweiten ledernen Sessel – mittlerweile in seinen Wohlfühlklamotten. Er ha tte meine Verzögerungsstrategie offensichtlich dafür genutzt, seinem Ritual nachzugehen.
Auf Vaters eigentlichem Platz hinter dem schweren Mahagonitisch hatte ich Platz nehmen müssen. Als Kind saß ich oft hier. Ich hatte immer gespielt, ich wäre die Chefin einer großen Firma. In den Sesseln, in denen jetzt meine Eltern saßen, mussten dann meine imaginären Angestellten sitzen. Meistens, weil sie Mist gebaut hatten und ich ihnen eine Standpauke halten musste. Oft hatte ich im Spiel Vaters Unterlagen durcheinandergebracht. Er hatte sich nie beschwert. Als ich älter wu rde, hatte ich mich zum Lesen in das Büro meiner Eltern zurückgezogen. Mein Vater hatte eine beachtliche Büchersammlung. Irgendwann hatten sich meine Bücher auch in die hohen nussbaumfarbenen Regale gesellt.
»Wir denken, es wird Zeit für dich, das Internat in Füssen zu besuchen«, hörte ich meine Mutter sagen.
Damit hatte ich irgendwie schon gerechnet. Kate hatte mich im Tagebuch schon darauf hingewiesen, dass wir uns bald wiedersehen würden. Wahrscheinlich hatte selbst sie nicht damit gerechnet, dass bald sofort hieß. Trotzdem, es jetzt aus dem Mund meiner Mutter zu hören, hatte so etwas Endgültiges. Bis dahin bestand noch immer die Chance, dass mir dieser Weg erspart bleiben würde. In meinem Magen bildete sich zwar ein Knoten von der Größe einer Männerfaust, aber ich gab mir trotzdem Mühe, eine eiserne Miene aufzusetzen und Haltung zu wahren.
»Besuchen, heißt das, mal kurz vorbeizuschauen? Das wäre ganz praktisch. So könnte ich Kate mal wiedersehen. Es ist fast unmöglich, sie dort drüben zu
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