Silence
gleiten. Ein paar Tränen hinterließen eine feuchte Spur auf meinen Wangen. Giovanni wollte mich in den Arm nehmen, doch ich schüttelte entschieden den Kopf.
»Gehen wir. Ich will nicht länger hier bleiben.«
Gerade wollte Giovanni mich auf seine Arme heben, als es an meiner Tür klopfte.
»Lisa? Schläfst du schon?«, wollte mein Vater wissen.
Ein Ruck ging durch mich durch. Mein Fuß wollte sich schon vom Boden lösen, mich hin zur Tür bringen, damit ich mich in die Arme meines Vaters werfen konnte. Bis zu diesem Klopfen hatte ich kaum Zweifel, dass es richtig war, einfach wegzulaufen. Jetzt stand ich wieder am Scheideweg. Am Ende des einen Weges standen meine Eltern und winkten mit einem Flugticket. Diesen Weg zu gehen hieße, meine Freiheit, meine Eigenständigkeit aufzugeben und mich in eine ungewisse Zukunft hinter den Mauern des Prinz Wilhelm zu Hohenschwangau Internates zu begeben.
Am Ende des anderen Weges standen die Vampire. Auch dieser Weg würde mich in eine unbekannte Zukunft führen. Ich würde meine Freiheit behalten, aber meine F amilie verlieren.
Giovanni spürte meine Zweifel. Er trat hinter mich und berührte mich sanft an der Wange. Du musst nicht mitkommen. Du kannst hier bleiben. Ich würde das verstehen.
Mit schlurfenden Schritten entfernte sich mein Vater wieder von meiner Tür. Meine Hände legten sich auf Giovannis Brust. Ich krallte mich in den schwarzen Stoff seines Seidenhemdes. Giovanni wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich verstehe es. Wirklich .
»Nein«, sagte ich tränenerstickt. »Du verstehst es nicht. Ich kann nicht hier bleiben. Ich kann nicht auf diese Schule gehen. Ich habe solche Angst vor dem, was mit mir ist. Und vielleicht wäre es richtig, dorthin zu gehen. Aber es ist nicht richtig, hinzunehmen, was sie mit uns machen. Welches Recht haben sie dazu? Ich meine, meine Eltern haben mich im Glauben gelassen, schuld am Tod von Kelly zu sein. Ich kann ihnen nie wieder vertrauen.«
Und Vertrauen war das, was ich brauchen würde, wenn ich mich in ihre Hände begab und auf dieses Internat gehen würde, ohne wirklich zu wissen, was mich dort erwartete.
Giovanni zog mich näher. Meine Arme schlangen sich um seinen Hals.
Bring mich hier weg, bitte.
18 . Kapitel
Giovanni schwang sich mit mir vom Balkon in die Nacht. Als wir unten auf dem Kiesboden landeten, knirschten die Steine ächzend auf. Kurz hielt ich die Luft an, die Augen fest auf das beleuchtete Fenster hinter uns gerichtet, denn die Bibliothek meines Vaters lag direkt unter meinem Zimmer. Das Licht, das aus dem Fenster drang, tauchte uns in Helligkeit wie ein Bühnenscheinwerfer einen Schauspieler. Schnell glitt Gi ovanni aus dem Lichtkegel hinein in die Schatten.
Es war eine sternenklare, kühle Nacht. Die Temperaturen fielen jetzt schneller, sobald die Sonne untergegangen war. Ich zog meine Strickjacke etwas enger um mich und ärgerte mich, dass ich nicht daran gedacht hatte, mir etwas Wärmeres für unsere nächtliche Flucht anzuziehen.
Dann ging es in Vampir-Blitz-Geschwindigkeit die lange Auffahrt hinunter. Das Licht auf der Veranda flackerte auf und die kleinen Laternen am Rande der Kiesauffahrt leuchteten. Ich hoffte, mein Vater würde nicht gerade am Fenster stehen, wie er es so oft tat, wenn er grübelte.
Giovanni hielt sich zwar weitestgehend in den Bereichen auf, die das Laternenlicht nicht ausleuchtete, aber dass diese überhaupt an waren, war schon ein Hinweis darauf, dass sich jemand über das Grundstück b ewegte. Als wir fast das Metalltor erreicht hatten, tauchten zwei Autoscheinwerfer auf. Giovanni stoppte abrupt und versteckte sich mit mir hinter einem Heckenrosenstrauch.
Meine Mutter kehrte von ihrem Ausflug zurück. Als sie in die Auffahrt einbog, blieb das Auto kurz stehen und ich konnte im Licht der kleinen Laternen sehen, dass sie ihren Kopf zum Fenster hinaushielt und zu schnuppern schien.
Sie kann mich riechen , sandte Giovanni mir zu. Er duckte sich noch weiter hinter den Strauch. Meine Arme schlangen sich stärker um Giovannis Hals und mein Herz pumpte unaufhörlich Adrenalin durch meinen Körper. Ängstlich vergrub ich mein Gesicht in Giovannis Jacke. Warum musste auch gerade heute der Himmel beschlossen haben, nicht zu regnen. Wenn es nur ein wenig feucht wäre, würde es nach nassem Laub riechen, nach Erde und harzigem Wald. All das würde vielleicht unsere Gerüche überdecken können. Jetzt betete ich, dass es der Duft des Rosenstrauchs auch tat.
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