Silence
welcher Geschwindigkeit die Bäume an uns vorbei zogen.
Wieder heulte ein Wolf in der Ferne und ein Zweiter antwortete ihm ganz aus unserer Nähe. Zu Hause in meinem Zimmer hatte ich ihr Heulen oft des Nachts gehört. Diese wunderschönen Tiere faszinierten mich schon als Kind, weshalb ich Wolfsblut an die hundert Mal gesehen und gelesen hatte. Es war nicht so, dass ich je einem Wolf begegnet wäre, aber sollte ich das irgendwann einmal tun, wäre meine Faszination schuld, wenn er mich fressen würde. Weil ich nämlich dumm genug wäre und versuchen würde, ihn zu streicheln.
Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich rechnete damit, dass wir jeden Moment gegen einen der Bäume rennen würden, deren Stämme sich kaum von der Dunkelheit abh oben. Ein einsamer Regentropfen fiel auf meine Stirn. Der Wald war unheimlich ruhig. Kein Vogel zwitscherte, kein Wind war zu spüren, nicht das kleinste Geräusch. Es war, als wäre alles um uns herum in der Zeit erstarrt. Dann fiel wieder ein Wassertropfen in mein Gesicht. Ganz in der Nähe knackte ein Zweig und durchschnitt die Stille. Mit meinen Augen versuchte ich das Dunkel zu durchdringen. Sie haben uns, dachte ich und war einer Panik nahe. War alles ein Fehler? Hätte ich nicht fliehen sollen? Die Zweifel zerrissen mich fast. Was würden sie den Vampiren antun? Ich wollte nicht daran denken. Wie konnte es nur dazu kommen, dass ich solche Angst vor meinen Eltern hatte?
Nach wenigen Minuten hatten wir es auf die Straße nach Brevard geschafft, wo am Straßenrand der kleine schwarze Golf parkte. Soweit mir bekannt ist, bringen es Autos nur bei Männern fertig, ein Leuchten in die Augen zu zaubern. In diesem Moment, ich könnte schwören, meine leuchteten wie die einer Katze. Mir war nicht bewusst, was mich mehr am Anblick des Kleinwagens freute; dass der irre Marathon durch den Wald vorüber war oder, dass das Auto eine Heizung besaß.
Ermano setzte sich hinter das Steuer und Giovanni kroch mit mir auf die Rückbank.
»Dreh die Heizung auf«, keuchte ich bibbernd.
Giovanni zog mich in seine Arme und ich lehnte mich dankbar gegen ihn. Mit seiner Jacke deckte er mich zu. »Und ich dachte, ihr habt ein dickes Fell.«
»Ein dickes Fell?«, fragte ich verwundert. »Was haben Gestaltwandler mit einem Fell zu tun?«
Ermano lachte laut auf. Der Motor sprang brummend an, dann schoss das Auto auf die Blue Ridge Road und weg von Silence. Eine Weile blickte ich zum Rückfenster hinaus. Nur die dunklen Schatten der Bäume konnte ich sehen. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und Tränen suchten sich ihren Weg über meine Wangen. In Gedanken sendete ich Larissa ein Auf Wiedersehen . Auch wenn ich nicht wusste, ob ich Silence jemals wieder betreten würde. Jetzt war ich also eine Heimatlose, eine Landstreicherin – obdachlos. Und meine einzige Familie waren zwei süße Vampire, die ich nicht wirklich kannte. Denen ich aber hoffentlich mehr vertrauen konnte als meinen Adoptiveltern.
Wehmütig kuschelte ich mich an Giovannis Brust.
Mit einem Mal fühlte ich mich, als hätte mir jemand Valium in den Kaffee getan. Noch vor einer Minute war ich so aufgeregt und mit Adrenalin vollgepumpt, dass ich hätte schwören können, ich würde die nächsten zwei Tage kein Auge zumachen. Doch jetzt packte mich eine Schläfrigkeit, die ich mir nur mit der angenehmen Wärme und meiner körperlichen Erschöpfung erklären konnte. »Erzähl mir von dem Fell«, flüsterte ich erschöpft und müde. Ich wollte, dass Giovanni mich von meinem Abschiedsschmerz ablenkte.
»Von dem, das dir bald wachsen wird?«, flüsterte er.
»Mir wird Fell wachsen?«, murmelte ich schläfrig.
Giovannis Antwort bekam ich nicht mehr mit.
Ich erwachte in einem schummrigen kleinen Zimmer, in einem unbequem weichen Bett. Es duftete nach frisch gewaschener Bettwäsche. An den Wänden mit siebziger Jahre gemusterten Tapeten hingen Bilder von Bergen mit schneebedeckten Gipfeln. Neben meinem Bett stand ein kleines klapprig wirkendes Nachttischchen mit einem Wählscheibentelefon. Dieses Zimmer war eine Zeitreise in die Vergangenheit. Ungewollt musste ich an verschwitzte Männer in engen Lederhosen mit zottigen la ngen Haaren denken.
Ermano und Giovanni saßen an einem kleinen Tisch, der vor dem einzigen Fenster stand, und betrachteten eine Straßenkarte. Die schweren orangefarbenen Vorhänge waren zugezogen. Das erklärte das Licht.
Ich setzte mich auf. »Wo sind wir?«
»In einem Motel am Rande von Brevard«, sagte Ermano
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