Silence
ihren Löchern kriechen und uns jagen. Und alles beginnt von Neuem. Wie willst du sie dann vor unsereins schützen?« Ermano zeigte mit einer ausladenden Handb ewegung in meine Richtung.
Etwas in der Art, wie er sagte »vor unsereins schützen«, beunruhigte mich. Meine Finger krampften sich um Giovannis Oberarme. Giovanni legte eine Hand auf meine und zog mich vor sich. »Sag ihr, dass du sie nicht willst, weil du Angst vor ihrem Volk hast und vor den Menschen.«
Ermano stand da und starrte mich mit eiserner Maske an. »Lisa, ich will dich mitnehmen. Nichts lieber als das, aber ich habe keine Ahnung von dem, was dir bevorsteht. Ich weiß nur, dass es furchtbar ist, wenn die Wandlung das erste Mal eintritt. Was ist, wenn wir dich hier fortbringen und es geht los?«
Giovanni schlang seine Arme fest um mich. Ich konnte Ermano nur mit großen Augen anstarren, weil ich nichts begriff von dem, was er da sagte.
»Ich gehe mit ihr nach Venedig. Du kannst gerne in den Staaten bleiben«, sagte Giovanni trotzig und küsste mich auf den Haaransatz.
»Vielleicht hat Ermano recht«, sagte ich zu Giovanni und drehte mich in seinen Armen um, damit ich ihm in die Augen blicken konnte. »Vielleicht sollte ich wirklich auf dieses Internat gehen. Kate ist auch da. Ich wäre zumindest nicht alleine.« Ich legte ihm beide Hände auf die Wangen und zwang ihn mich anzublicken. Blutige Tränen schwammen in seinen Augen. Mythos bestätigt: Vampire weinen Blut.
Giovanni ließ die Arme sinken und wanderte in der kleinen Hütte umher. »Willst du wirklich dein Leben aufgeben?« Er blieb stehen und blickte Ermano an. »Wie lange gibt es diese Schulen schon? Was denkst du?«
Ermano musterte mich, als könnte er die Antwort in meinem Gesicht ablesen. »Ich weiß nicht. Es hieß immer, sie könnten keine Nachkommen zeugen. Es hätten nicht genug von ihnen überlebt und mit den Menschen würden sie keine Kinder bekommen können.«
»Na ja, das mit den Nachkommen scheint eindeutig widerlegt«, sagte Giovanni mit Blick auf mich.
Im Wald ertönte das lang gezogene Heulen eines Wolfes. Der Wind blies wie zur Antwort durch die Baumwipfel und ließ die Blätter rascheln. Dann folgte Stille. Eine unheimliche Stille, die die Stimmung in der kle inen Hütte noch unangenehmer machte.
Die beiden Vampire standen sich gegenüber wie bei einem Boxkampf. Als würden sie nur darauf warten, dass der Gong ihnen den Beginn der nächsten Runde ankündigte. Ich konnte ihren Gedankendisput nicht hören, aber ich sah deutlich, dass sie miteinander stritten. Wieder heulte ein Wolf und durchschnitt die Ruhe.
»Wir sollten verschwinden. Jetzt«, sagte Ermano. »Wir müssen es zum Auto schaffen. Wenn wir laufen, können sie unserer Spur leichter folgen. Wenn wir genügend Vorsprung ausbauen können, kommt uns der Regen zur Hilfe.« Ermano deutete mit dem Kopf zum Himmel.
Ich folgte seinem Blick, konnte aber außer der Finsternis und ein paar Baumwipfeln, die sich vor dem Mond abzeichneten, keine Anzeichen von Wolken ausmachen.
»Es wird regnen? Woher weißt du das?«, fragte ich verwundert. Noch vor wenigen Minuten hatte ich in einen sternenklaren Nachthimmel gesehen.
»Wir fühlen Wetterumschwünge«, antwortete Giovanni. »Der Regen wird unsere Gerüche wegspülen.«
Das hätte ich auch gewusst. CSI-Miami sei Dank.
Giovanni hatte vorhin bei unserer Begegnung schon erwähnt, dass meine Mutter ihn riechen konnte. War der bessere Geruchssinn also ein weiteres Merkmal auf der Liste der Wandlungssymptome? Notiere: Gestaltwandler; Gedankenlesen, Geruchssinn, ungeahntes Aggressionspotenzial.
Leider brachte mich das nicht viel weiter.
Noch bevor ich zu Ende grübeln konnte, schnappte Giovanni meine Reisetasche und mich. Ermano hatte sich die Matratzenrollen auf den Rücken gebunden und hielt zwei Rucksäcke in den Händen.
»Vielleicht solltest du mich auch huckepack nehmen? So kommst du bestimmt schneller voran«, schlug ich Giovanni vor, der mich wieder auf seinen Armen trug.
Giovanni grinste. »Und deinen ängstlichen Gesichtsausdruck verpassen, wenn wir durch den Wald rennen? Um nichts auf der Welt.«
»Wenn ihr dann zu Ende geflirtet habt, können wir los«, sagte Ermano bissig.
Wir flogen durch die Nacht und der Wind blies mir eisig ins Gesicht. Meine Nase fühlte sich an wie im Winter, wenn das Thermometer sich der Null-Grad-Markierung näherte, was in North Carolina eher selten der Fall war. Ich war dankbar, in der Dunkelheit nicht sehen zu müssen, in
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