Silentium
die Opfer des Alkohols betonen. Andererseits soll man die Opfer natürlich auch nicht leugnen, weil wenn das Fräulein Schuh jetzt nicht so gesprächig geworden wäre, kaum daß das Cointreau-Gläschen unten war, wären wir heute wahrscheinlich drei Tote weniger.
«Sie wollen also wissen, wie die Ehe der beiden war!»
Im Büro haben das alle seit Jahrzehnten gewußt: Das Fräulein Schuh gibt nicht nach, da fährt die Eisenbahn drüber, und wenn das Fräulein Schuh sagt, die Sonne geht im Westen auf, dann geht die Sonne im Westen auf, da sparst du dir nur einen Haufen Energien, wenn du es sofort zugibst. Und der Brenner hat es jetzt langsam auch begriffen. Deshalb hat er nur genickt, quasi: Machen wir halt einmal eine Ausnahme, soll sich die alte Schachtel ihre Fragen selber stellen.
«Gar nicht war die Ehe», hat das Fräulein auf ihre Frage geantwortet und die beiden Gläschen noch einmal vollgeschenkt. «Sie wollen jetzt sicher wissen, was ich damit meine, daß die Ehe gar nicht war. Ganz einfach. Sie hätte den guten Gottlieb nicht heiraten sollen. Er war kein richtiger Mann. Sie wollen sicher wissen, was ich unter keinem richtigen Mann verstehe.»
«Ich kann es mir vorstellen.»
Jetzt Blick des Fräuleins. Töten wäre im Vergleich dazu der reinste Gnadenschuß gewesen.
«Warum hat sie sich nicht scheiden lassen?» Das war jetzt der Brenner, der gefragt hat.
«Sie sollten lieber fragen, warum sie ihn geheiratet hat», hat das Fräulein ihn angeschnarrt. «Und die Antwort darauf kann ich Ihnen gern geben: Sozialwahn!»
«Sozialwahn?»
Das hat der Brenner jetzt gar nicht als Frage gemeint, er hat es sich schon ungefähr vorstellen können, was sie darunter versteht. Aber natürlich, ausgerechnet bei dem Punkt hat jetzt das Fräulein gar nicht mehr mit dem Antworten aufhören können.
Und ist ja auch wirklich eine interessante Sache. Weil die Kinder von den reichen Leuten haben es auch nicht immer leicht. Natürlich, 90 Prozent zum Vergessen, weil die Ausbildung zum Cabriofahrer überstehen ja nur die wenigsten ohne Hirnverkühlung. Aber andererseits, 90 Prozent von den normalen Leuten auch zum Vergessen! Ist natürlich schon wahr, daß Geld den Charakter verdirbt, bin ich der letzte, der das bestreitet. Aber Armut verdirbt auch den Charakter, Mitteldings verdirbt auch den Charakter. Charakter überhaupt ein sehr empfindliches Gemüse. Jetzt vielleicht kleiner Trost: Manche Gemüse schmecken erst so richtig, wenn sie schon ein bißchen am Hinübersinken sind.
Aber die Präsidententochter immer bei den 10 Prozent dabei. Vorbildlicher Mensch schon in der Jugend. Kein Cabrio, kein Surfen, kein gar nichts, sondern die ist zweimal in der Woche freiwillig ins Altersheim putzen gegangen. Immer alles mit dem Sozialen, Sockenstricken für die Massenmörder, dann sogar Sozialakademie studiert, daß sie der Vater fast enterbt hätte, leerstehende Wohnungen besetzen, Asylanten schmuggeln, Haschisch rauchen und, und, und!
«Aber das schlimmste war natürlich», hat das Fräulein Schuh wieder mit ihrer Flüsterstimme gesagt.
Du darfst nicht vergessen, daß der Brenner langsam auf die fünfzig zugegangen ist, und das ist ein Alter, wo du schon gewisse Verschleißerscheinungen bemerkst. Jetzt hat er ein bißchen gezweifelt, ob er vielleicht schon so schlechte Ohren hat, daß er das Geflüster, was das schlimmste war, nicht hört.
«Na, was wohl?» hat das Fräulein Schuh ihn aus seinen Ängsten aufgeschreckt. Weil die hat gar nicht weitergeredet, sondern wie eine Lehrerin, die an das Mitarbeiterische im Schüler glaubt, hat sie den Brenner ein bißchen zum Mitdenken eingeladen, quasi, jetzt schauen wir uns einmal an, was du für ein Detektiv bist.
Und ob du es glaubst oder nicht, der Brenner jetzt so erleichtert über sein intaktes Gehör, daß er die Antwort herausgeschossen hat, praktisch Pistole: «Das schlimmste war natürlich, daß sie diesen Mann geheiratet hat, der dem Vize keinen Enkel gemacht hat, weil seine einzige Bettgeschichte die war, daß er sich auf der Psychiatercouch wundgelegen hat.»
«Prost!» hat das Fräulein Schuh gesagt, und hinunter mit dem dritten Gläschen Cointreau. «Jetzt fragen Sie schon!»
«Ich glaub, das meiste hab ich schon gefragt», hat der Brenner behauptet. Weil drei Gläschen Cointreau, da hat der Mensch plötzlich viel mehr das Gefühl, daß er im Grunde schon alles gefragt hat, darin besteht ja das große Verdienst des Alkohols.
«Und wie das Verhältnis von unserem Vize
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