Silentium
Musiklehrer hat immer gepredigt, Gehör wichtiger als Stimme, schau dir den Louis Armstrong an!
«Gehör schon», hat das Fräulein Schuh gesagt und neckisch vor ihrem Ohr Daumen und Zeigefinger gerieben.
«Mehr für den Mozart am Fünftausend-Schillingschein?»
«Und der wird jetzt auch noch abgeschafft», hat das Fräulein geseufzt, als wäre das auch noch die Schuld von ihrem Chef.
«Das neue Geld knistert sicher auch schön in seinen Ohren.»
«Jaja. Wirtschaftlich ist er ganz für das Moderne.»
«Aber bei der Hugo-Musik kennt er keinen Spaß?»
«Das hat ihm auch seine Tochter immer vorgehalten. Sie wissen ja, Töchter werfen ihren Vätern gern Doppelmoral vor.»
«Nein, das weiß ich gar nicht.»
«Na, jetzt wissen Sie’s!»
«Aber wenn sie so eine Musikliebhaberin ist, profitiert sie zumindest davon, daß sie sich die Aufführungen bei den Festspielen anschauen kann. Die muß sich nicht um Karten anstellen.»
«Ich kenne keinen Menschen, der so eine Aufführung mehr genießt. Sogar jetzt, wo ihr Mann noch nicht einmal eine Woche tot ist, läßt sie sich die Vorstellungen nicht entgehen.»
«Und ich habe heute den Eindruck gehabt, daß sie seit Tagen nicht das Haus verlassen hat. Die hat mich vor die Tür gejagt wie einen Hund.» Weil Katze wäre dem Brenner vor dem Fräulein Schuh gar zu erbärmlich vorgekommen, darum Hund. «Fast wäre ich Ihnen durchs offene Dach in die Felsenreitschule gesegelt, so hat sie mich aus ihrem Garten gestaubt.»
Das Fräulein Schuh hat gelacht. Er hat schon geglaubt, guter Witz, das mit der Felsenreitschule, wo ja wirklich manchmal die Selbstmörder beim offenen Dach hineingesprungen sind. Aber nein, sie hat gelacht, weil das gar nicht die Witwe gewesen ist.
«Ihr Vater stellt ihr die Mönchsberg-Villa ja nur zur Verfügung. Die könnte sich so ein Haus doch nie im Leben von ihrem Sozialarbeitergehalt leisten. Aber im Sommer muß sie immer raus, da vermietet er es weiter, damit er das Geld wieder hereinbringt. Das war ja der Grund, warum sein Schwiegersohn zeitlebens so sauer auf ihn war. Stellen Sie sich vor, als erwachsene Menschen jeden Sommer für zwei Monate raus aus dem eigenen Haus.»
Ist also die Angorakatze gar nicht die Witwe gewesen. Und der Brenner hat sich schon gewundert, wie man nach so einem tragischen Todesfall derart resolut sein kann.
«Und wo wohnt sie in der Zwischenzeit?»
«Natürlich bei ihrem Vater. Der ist ja allein in seinem Riesenhaus. Aber ich weiß etwas Einfacheres, wie Sie sie treffen können. Morgen geht sie ins große Festspielhaus. Vorpremiere.»
«Ich fürchte, da hab ich keine Karte.»
«Ich fürchte, das läßt sich einrichten», hat das Fräulein gelächelt. Sie hat eine Freikarte aus ihrem Regal gleich neben dem Depot für die Cointreau-Flasche herausgefischt. «Die Karte für ihren verstorbenen Mann hat sie zurückgegeben.»
«Verstorben», hat der Brenner ein bißchen die Stirn gerunzelt. «Was hätten Sie denn sonst mit der Karte gemacht?»
Das Fräulein hat den Zeigefinger dorthin gelegt, wo andere Menschen Lippen haben: «Verkauft. Aber das ist streng verboten.»
«Sie hätten sie schwarz verkauft?» Jetzt der Brenner natürlich Hemmungen, die Karte anzunehmen. Er hat geglaubt, so eine Karte kostet Millionen. Du mußt wissen, vor einem halben Menschenleben war der Brenner schon einmal in der Oper, Polizeischulausflug in die Wiener Staatsoper. Schon sehr interessant, aber in der Pause haben sie eine Striptease-Bar entdeckt, und dann eben, das mußt du dir vorstellen wie ein Kind, das beim Spielen ein bißchen die Zeit vergißt. Sind sie nicht mehr in die Oper zurück. Und obwohl sie alle nur einen billigen Studenten-Stehplatz gehabt haben, hat der Brenner sich sein Leben lang eingeredet, daß es der Opernbesuch war, der ihn auf Jahre hinaus ruiniert hat.
Deshalb hat er die Karte jetzt nicht und nicht annehmen wollen. Aber wäre das erste Mal gewesen, daß sich jemand gegen das Fräulein Schuh durchsetzt. Und ich muß zu ihrer Ehrenrettung sagen, daß es eine ziemlich große Karte aus sehr steifem Papier war. Weil sie hat die Karte jetzt dem Brenner einfach in die Gesäßtasche geschoben, während sie ihm mit starren Augen ins Gesicht geschaut und mit spanischem Akzent gesagt hat: «Hosééé! Ich schieb sie dir in die Hosééé.»
Der Brenner hätte schwören können, daß es genau die Stimme war, die sie damals mitgeschnitten haben. Aber wie lange kann man sich eine Stimme schon merken, und das Fräulein Schuh
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