Silo: Roman (German Edition)
er die verschiedenen Schichten erkennen konnte, Farben, die
sich im Laufe der Jahre oder je nach Verfügbarkeit der jeweiligen Mischung
verändert hatten. Jede kleine Rille führte ihm den Lauf der Zeit vor Augen,
jeder Name, der in die Farbe hineingeritzt war, verdeutlichte den Wunsch des
Menschen, mehr Zeit zu haben, mehr Zeit, bis seine arme Seele ihm
entrissen wurde.
Lange gingen sie
schweigend weiter, ein Träger kam mit einer schweren Last vorbei, ein junges
Paar guckte schuldbewusst. Dem Servergefängnis zu entkommen war nicht der
Spaziergang in die Freiheit geworden, nach dem Lukas sich seit Wochen gesehnt
hatte. Man hatte ihm eine Falle gestellt, ihn zu einem Marsch der Schande
verurteilt, vorbei an Gesichtern in Türrahmen, Gesichtern auf Treppenabsätzen,
Gesichtern auf der Wendeltreppe. Leere, unbewegte Gesichter. Gesichter von
Freunden, die darüber nachdachten, ob er der Feind war.
Und womöglich war er
das.
Sie würden
behaupten, er habe die verbotenen Worte ausgesprochen, das große Tabu
gebrochen, aber Lukas wusste inzwischen, warum die Menschen wirklich
hinausgeschickt wurden. Er hatte den Virus in sich. Wenn er die falschen Worte
aussprach, würde das alle umbringen, die er kannte. Es war der Weg, den auch
Juliette gegangen war, und zwar ebenso grundlos wie er. Er vertraute ihr, das
hatte er immer, und er hatte immer gewusst, dass sie nichts Falsches getan hatte.
Sie war in vielerlei Hinsicht so wie er. Abgesehen davon, dass er – im
Gegensatz zu ihr – nicht überleben würde. Das hatte Bernard ihm
unmissverständlich klargemacht.
Sie waren schon zehn
Stockwerke über der IT, als Peters
Funkgerät zu summen begann. Er ließ Lukas’ Ellbogen los und drehte die
Lautstärke hoch, um zu hören, ob der Anruf ihm galt.
Hier ist Juliette.
Wer ist da?
Diese Stimme.
Lukas’ Herz machte
einen Sprung und fiel dann ganz tief. Er starrte auf das Geländer und hörte zu.
Bernard antwortete
und bat um Ruhe. Peter drehte die Lautstärke hinunter, schaltete das Gerät aber
nicht ganz aus. Die Stimmen stiegen mit ihnen hinauf, sie unterhielten sich.
Jeder Schritt und jedes Wort zerrte an Lukas. Er betrachtete das Geländer und
dachte wieder an die Freiheit.
Ein Griff und ein
kleiner Sprung – und dann ein langer Flug.
Er spürte geradezu,
wie er die Bewegungen schon ausführte, die Knie beugte, die Füße über das
Geländer warf.
Die Stimmen im
Funkgerät stritten sich. Sie sagten verbotene Dinge. Sie glaubten offenbar, sie
würden von niemandem gehört.
Wieder und wieder
führte Lukas sich seinen Tod vor Augen. Sein Schicksal erwartete ihn jenseits
dieses Geländers. Die Vision war so mächtig, dass seine Beine schwer wurden und
er nicht mehr so schnell gehen konnte.
Er wurde langsamer,
und Peter wurde mit ihm langsamer. Sie zögerten beide, sie begannen in ihrer
Überzeugung zu schwanken, während sie Juliette und Bernard zuhörten. Lukas
verließ die Kraft, und er beschloss, nicht zu springen.
Beide Männer dachten
noch einmal gründlich nach.
79. KAPITEL
Silo
17
Juliette
wachte auf, weil sie von jemandem geschüttelt wurde. Ein Mann mit Bart. Es war
Solo, und sie war in seinem Zimmer eingeschlafen, auf dem Boden neben seinem
Tisch.
»Wir haben es
geschafft«, sagte er und zeigte ihr seine gelben Zähne. Er sah besser aus, als
sie ihn in Erinnerung hatte. Lebendiger. Sie hingegen fühlte sich wie tot.
Tot.
»Wie spät ist es?«,
fragte sie. »Welcher Tag ist heute?«
Sie versuchte, sich
aufzusetzen.
Solo ging an den
Computer und schaltete den Bildschirm ein. »Die anderen suchen sich ihre Zimmer
aus und gehen dann weiter zur oberen Farm.« Er drehte sich zu ihr um. »Wir sind
nicht allein im Silo«, sagte er feierlich, als wäre das immer noch eine
Neuigkeit. »Es gibt doch noch andere.«
Juliette nickte. Sie
konnte gerade nur an eine einzige andere Person denken. Ihre Träume kehrten
zurück, Träume von Lukas, von ihren Freunden, die in Arrestzellen saßen, sie
hatte Albträume gehabt von einem Raum, in dem für sie alle Schutzanzüge angefertigt
wurden, egal, ob die Linsen noch gereinigt werden mussten oder nicht. Es würde
ein Massenmord werden, eine Warnung für diejenigen, die zurückblieben. Sie
dachte an all die Leichen vor diesem Silo, Silo siebzehn. Man konnte
sich gut vorstellen, was als Nächstes drüben im Silo achtzehn passieren würde.
»Freitag«, sagte
Solo und nahm den Blick vom Bildschirm. »Oder Donnerstagnacht, je nachdem, wie
man das sieht. Zwei Uhr morgens.«
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