Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Plötzlich wurde ihm klar, womit Beat Zuberbühler auf der Flucht war.
»Was ist?« Vinzi schien nicht zu kapieren.
Plotek schüttelte den Kopf und zeigte auf den Parkplatz.
»Der Mercedes?«
»Weg.«
Sein Mercedes war tatsächlich verschwunden.
»Zuerst das Reh, jetzt der ganze Wagen.« Vinzi sagte es, als bestünde da ein Zusammenhang. Da fiel Plotek auf, dass er schon lange nicht mehr an das Reh gedacht hatte.
»Und wie kommen wir jetzt nach Hause?«
Vinzi schien ernsthaft besorgt. Plotek hob die Schultern.
16
Am nächsten Morgen kam Plotek, nach nur ein paar wenigen Stunden unruhigem Schlaf, gerade noch rechtzeitig zum Qigong. Trotz der Trauer musste der Klinikbetrieb weitergehen. Darauf bestand Selina Wehrli, als rechtmäßige Nachfolgerin ihres Mannes.
»Selbst wenn wir die Klinik sofort schließen würden, macht ihn das nicht lebendig.«
Da hatte sie wohl recht. Dennoch erstaunte ihr forscher Pragmatismus. Auch Britta hielt sich daran. Obgleich es ihr sichtlich schwerer fiel. Sie sah beim Qigong aus, als wäre sie mit ihren Gedanken überall, nur nicht auf der Matte im Gymnastikraum. Also nichts mit: ein Gedanke gleich Qigong. Da schienen nun unendlich viele in Brittas Kopf zu hausieren. Infolgedessen hatte sie extreme Schwierigkeiten, sich auf der Matte zu halten. Plotek hingegen stand wie eine Eins. Marlies ebenso. Sie zwinkerte ihm zu, als wären die beiden nicht nur auf einer Wellenlinie, sondern auch aus demselben Holz geschnitzt.
Klemens war nun ebenfalls in der Qigong-Gruppe. Offenbar wollte er seinen Gutschein sofort einlösen. Er sah in der Gymnastikhose von Marlies und dem alten, fleckigen Oberhemd aus wie ein Demenzkranker, der völlig orientierungslos einem Altenheim entlaufen war. Klemens kam mit dem Qigong und der Verbindung von Himmel und Erde überhaupt nicht zurecht. Kein Wunder eigentlich, stand doch sein Himmel genau neben ihm und mit beiden Beinen auf der Erde. Klemens lag mehr auf dem Boden, als d ass er stand. Sein Gleichgewichtssinn steckte noch im Vorschulalter. Nach jedem Sturz lachte er aber nur und stand sogleich wieder auf. Er spuckte in die Hände, als wollte er zwanzig Festmeter Holz hacken, und sagte: »Jetzt aber!«
Und schon lag er wieder. So lange, bis Britta sich erbarmte und vorschlug: »Vielleicht sollten Sie sich mal ausruhen. Ich glaube, fürs Erste reicht es.«
Von da an saß Klemens mit verschränkten Beinen auf seiner Matte und verschlang dabei seine Marlies mit den Augen. Allein dieser Anblick trieb Plotek vor Peinlichkeit die Röte ins Gesicht. Wie es aussah, versuchte Klemens die Verbindung zwischen Himmel und Erde nun rein telepathisch herzustellen. Was auch zu gelingen schien.
»Haaaaaaaa …« Der Feuerlaut von Marlies knisterte. »Oooooooaaaaaaa …« Der Erdlaut hatte was von orgiastischem Geheule. »Schschschsch …« Und der Holzlaut erinnerte an das Stöhnen beim Geschlechtsakt.
Während Plotek bei der anschließenden Shiatsu-Massage von Selina Wehrli mit Handballen und Ellbogen bearbeitet wurde, versuchte er krampfhaft, sie nicht auf den toten Ehemann anzusprechen. Es misslang. Es rutschte ihm, obgleich er es sich verbat, doch heraus.
»Und Sie wussten nichts davon?«, fragte er so leise, dass es kaum zu hören war.
Selina antwortete zunächst nicht, als hätte sie es tatsächlich überhört. Als Plotek schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, kam doch noch was.
»Sie meinen, das gibt es doch nicht, oder? Da lebt man zusammen und ahnt nichts, was?!« Auch sie sprach leise, wie für sich. »Das Trauma und all das, wie konnte er das nur verbergen, was?«
» Er ahnte einiges«, flüsterte Plotek in den Futon hinein.
»Was denn?« Noch immer wie nebenbei.
»Leandro.«
Selina lachte auf. Es klang weniger nach Belustigung als nach Bitterkeit. »Da gehört gar nichts dazu. Das hat nichts mit Ahnung zu tun, rein gar nichts.«
Sie rammte ihren Ellbogen in seine Hüfte. Ihm kam es schmerzhafter vor als jemals zuvor.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, dachte Plotek, sie auf dieses heikle Thema in dieser für ihn derart ungünstigen Position anzusprechen.
»Matteo war doch gar nicht fähig, ein Kind zu zeugen.«
Das klang jetzt nach Vorwurf und so, als wäre die Pietät auch schon im Jenseits. Selbst der tote Dr. Wehrli schien schlechte Karten bei seiner Ehefrau zu haben.
»Wir haben es lange genug versucht. Aber nichts. Ob Handstand, Eisprung, Ovulationstest, Zykluscomputer, Speiseplananpassung und dergleichen. Nichts.« Wieder
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