Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Holz roch, dass die verbrennenden Scheite fast schon zu hören waren, trieb Plotek den Schweiß auf die Stirn.
Als Plotek dann der Ehefrau des Doktors vorgestellt wurde, schien ihm die Vermutung mit der ausgespannten Freundin gar nicht so abwegig. Ob ausgespannt oder nicht, Selina Wehrli war keine Frau, sondern ein fleischgewordener Engel in einem weißen Hosenanzug. Den der Schöpfer ebenfalls nach dem Schöpfungsakt hier abseits der Welt vergessen hatte. Der Engel war höchstens halb so alt wie Dr. Wehrli und wirkte gleichzeitig alters- und zeitlos. Ein Bild von einer Frau. Ein Bild, das Plotek so ähnlich schon mal gesehen hatte. Vom Gesicht her jetzt.
Ja, Match Point , dachte Plotek. Und dann: Frau Wehrli erinnerte ihn an Scarlett Johansson im Film von Woody Allen. Auch sie war eine Erscheinung, die man nur betrachten und anbeten konnte. Für alles andere war sie zu anmutig, zu makellos. Engelsgleich eben. Unvorstellbar für Plotek, dass ein Engel den Haushalt führt, einkauft oder gar aufs Klo geht. Und erst recht, dass er Kinder bekommt. Dabei turnte auf dem Boden, zwischen den schlanken Beinen von Frau Wehrli, ein vielleicht zweijähriger Junge wie ein Affe herum.
»Leandro!«, sagte Frau Wehrli.
Sie hob mit der einen Hand ihren Sohn hoch und presste ihn an ihre Hüfte. Die andere Hand reichte sie Plotek. Eine Hand wie gemalt. (Von Dürer natürlich.) Zerbrechlich, zart und wunderschön. Auch die Stimme passte zur ganzen Erscheinung, zum Gesicht, wie die Faust aufs Auge. So sprechen nur Engel. Wobei im weiteren Gespräch, das vornehmlich aus Floskeln und Belanglosigkeiten bestand, Plotek auffiel, dass der Engel einen leichten S-Fehler hatte. Ihre Zunge musste beim Bilden der Worte ab und an mit den Zähnen kollidieren.
Süß, dachte Plotek noch und verzog kurz darauf das Gesicht. Der Grund: Auch ihr Händedruck war überraschend fest. Gar nicht wie der eines Engels. Vielmehr Bauarbeiter. So fest, dass Ploteks Hand danach sogar ein wenig schm erzte. Der Sohn hingegen war ein blasser Junge mit schwarzen Haaren, dunklen Augen und einem Mund, der an eine Ente erinnerte. Er passte so gar nicht zu dieser aus Raum und Zeit gefallenen Frau. Wie ein Fremdköper klebte er jetzt an ihrer Seite. Ein hässliches, blasses Geschwür, das nun auch noch anfing zu schreien. Was Dr. Wehrli zum Anlass nahm, nach Ploteks Unterarm zu greifen.
»Wenn ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen dürfte?«
Er führte Plotek wie einen Schwerkranken, noch immer die Hand an seinem Unterarm, neben sich her. Plotek ließ sich auch wie ein solcher führen, während er zu Frau Wehrli und ihrem noch immer schreienden Sohn zurückschaute. Das verzerrte Gesicht des Sohnes bekam jetzt ein wenig Farbe, sah aber dafür noch hässlicher aus. Frau Wehrli hingegen lächelte und strahlte, als hätten Engel auch ein Herz für schreiende Rotzlöffel.
»Wir haben für Sie ein Aktivprogramm zusammengestellt«, sagte Dr. Wehrli, während er Plotek den Flur entlang begleitete. »Nicht zu schwer, nicht zu anstrengend, aber dennoch so abgestimmt, dass Körper und Geist in der Zeit, in der Sie bei uns sind, sich erholen, regenerieren und wieder zu Kräften kommen, verstehen Sie?«
Klar verstand Plotek, war ja auch nicht so schwer.
»Hierfür gibt es natürlich verschiedene Möglichkeiten. Das fängt bei der Ernährung an und hört mit körperlicher Betätigung auf.«
»Wie meinen Sie das mit der Ernährung?« Das war Plotek nun doch nicht ganz klar.
»Na ja, Schweinsbraten gibt es bei uns nicht.« Dr. Wehrli lachte. Plotek nicht. »Wir haben für Sie einen Ernährungsplan zusammengestellt. Dafür sind vor allem meine Frau und ihr Team zuständig. Auswendig weiß ich den jetzt nicht, aber prinzipiell basiert unsere Therapie auf fünf Säulen, wozu die Diätetik gehört, also eine Ernährung nach den fünf Elementen. Viel Obst, Gemüse, Sie wissen schon …«
Wusste er nicht. Sagte aber auch nichts.
»Dann sind da noch die Arzneitherapie, die Akupunktur, die Bewegungsübungen und die Massage.« Dr. Wehrli war nicht mehr zu stoppen . »Ein ganzkörperliches Rundum-Programm quasi. Sie werden sehen, in ein paar Wochen sind Sie ein anderer Mensch. «
Schon wieder ein anderer, dachte Plotek. Warum darf man nicht der sein, der man ist?
Sie kamen am Ende des Flurs an.
»Natürlich brauchen Sie hierfür auch ein wenig Disziplin. Aber daran gewöhnen Sie sich schnell.«
Dr. Wehrli öffnete eine Tür. »Hier!«
Zuerst betrat der Doktor das Zimmer, dann Plotek. Es war
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