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Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)

Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Sils Maria: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo Swobodnik
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herzerfrischend und durchdringend, dass Plotek sogar die Tränen kamen. Immer mehr. In Strömen schossen sie aus seinen Augen und wurden zu einem kleinen Tsunami zwischen den Lidern. Alles in Ploteks Blick verschwamm. Die Schweizer Landschaft, der Schnee, die Fahrbahn. Der weiße Mittelstreifen verhielt sich wie ein Band in der rhythmischen Sportgymnastik und tanzte, als würde ein mit schwäbischem Gras abgefüllter Derwisch ihn schwingen, vor Ploteks Augen herum. So lange, bis Vinzi plötzlich »Pass auf!« schrie.
    Plotek passte nicht auf, sondern trat intuitiv, auch ziemlich erschrocken, auf die Bremse. Wieder schlitterte der Wagen auf der Fahrbahn entlang und kam nach nur wenigen Metern zum Stehen. Vor der Motorhaube war diesmal aber kein Reh zu sehen. Weder ein lebendiges noch ein totes. Im Lichtkegel auf der Straße stand ein Mädchen. Es schaute, als stünde es nicht vor der Motorhaube eines Mercedes SEL , sondern vor der sperrangelweit offenen Tür zum Jenseits.
    Schnell hatte sich Vinzi von dem Schreck erholt. Er öffnete die Beifahrertür und brüllte das Mädchen an: »Sag mal, bist du blind?«
    Sie war nicht blind.
    »Oder lebensmüde?!«
    Das schon eher.
    »Wenn du dich schon umbringen willst, dann mach das gefälligst so, dass niemand anderer in Mitleidenschaft gezogen wird! Blöde Göre, blöde!«
    »Lass mal«, versuchte Plotek ihn zu beruhigen. Er stieg aus dem Wagen und trat neben das Mädchen, das noch immer vor der Motorhaube stand und wie benommen durch die Windschutzscheibe starrte.
    »Alles okay?«, fragte Plotek.
    Das Mädchen, vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt, reagierte nicht.
    »Hallo, ist mit dir alles in Ordnung?«
    Er rüttelte an ihrem Arm.
    »Was?«
    »Ob mit dir …«
    »Ich glaub schon.«
    »Tut dir irgendwas weh?«
    »Nein, nein, nein.« Sie schüttelte vehement den Kopf.
    »Los, fahren wir weiter!« Vinzi brüllte es aus dem Wagen. Er hatte offenbar wenig Lust, sich noch weiter mit dem Mädchen zu beschäftigen. Er wollte gerade wieder die Tür des Wagens schließen, als das Mädchen fragte: »Kann ich mitfahren?«
    Ungern, dachte Plotek. Auch er stand schon wieder an der Fahrertür.
    »Was?«, stieß Vinzi ins selbe Horn. »Zuerst springt sie uns vor die Haube, dann will sie auch noch …«
    »Steig ein«, sagte Plotek.
    Schon saß das Mädchen auf dem Rücksitz neben dem Rollstuhl.
    »Wo willst du hin?«
    »Sils Maria.«
    »Na, das ist doch mal ein Zufall«, gab sich Vinzi ironisch.
    Das Mädchen schien darauf aber nicht reagieren zu wollen. Sie schien auf so ziemlich gar nichts reagieren zu wollen. Sie saß auf der Rückbank und blickte aus dem Fenster, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Sie wirkte wie eingefroren. Auch abwesend.
    Vielleicht Schock, dachte Plotek, legte den ersten Gang ein und fuhr los.
    »Was willst du denn in Sils Maria?«, fragte er nach ein paar Minuten.
    »Nichts.«
    »Und wo kommst du her?«
    »Ist doch egal.«
    So kann man das natürlich auch sehen. Vinzi lachte. Plotek klappte die Sonnenblende mit dem integrierten Schminkspiegel herunter und ließ von da an das Mädchen nicht mehr aus den Augen. Ihre Augen fielen nach nur wenigen Kilometern zu.
    Am Abend kamen sie in Sils Maria an. Es schneite noch immer. Die Straßen waren jetzt ganz weiß. Das Dorf sah in der Dunkelheit aus, als wäre es von einer Gottheit irgendwann nach dem Schöpfungsakt vergessen worden. Ruhig, anmutig und geheimnisvoll lag es zwischen den beiden Seen, dem Silsersee und dem Silvanersee. Lang gezogen war das Dorf, die Häuser und Straßen von Sils Maria lagen verstreut wie eine Saat, die bei der Morgendämmerung nicht nur aufgehen, sondern auch gleich blühen sollte. Kein Wunder, dass hier die deutschsprachige Intelligenz einst die Seele baumeln ließ und sich vom hektischen Alltag der Großstädte entspannte. Das Who’s who der europäischen Künstler kam hier zusammen, dichtete, dachte, malte und komponierte. Was das Zeug hielt. Hermann Hesse, Erich Kästner, Claude Chabrol, Richard Strauss, Albert Einstein, Thomas Mann, Marc Chagall, Friedrich Nietzsche, um nur ein paar wenige der ganz vielen zu nennen.
    Nicht verwunderlich, dass hier weltberühmte Gedichte und wegweisende philosophische Traktate entstanden sind, dachte Plotek. Auch wenn es jetzt dunkel war und nur das schummrige Licht der Straßenlaternen das Dorf beleuchtete. Wenn nicht hier, wo dann, mochte man denken.
    Plotek hielt vor dem Hotel Zentral an, das sich in der Nähe von Dr. Wehrlis Privatklinik befand

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