Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
frisch. Anders als sonst immer am Morgen. Wo er sich meistens wie ein geprügelter Hund vorkam: müde, zerschlagen, zerzaust. Dennoch sank seine gute Laune kurz nach dem Aufstehen schon wieder. Der Grund: das Frühstück. Oder besser: das fehlende Frühstück. Denn von Frühstück konnte man im Angesicht dieser halb vollen Schale Tee, die jetzt vor Plotek stand, nicht gerade sprechen. Selbst auf das angekündigte Obst wurde verzichtet. Der Tee roch auch noch verdächtig nach kaltem Schweiß an Polyesterhemden und schmeckte unterirdisch. Er war bitter, ranzig und ekelhaft.
»Man gewöhnt sich daran.« Eine Frau, die neben Plotek und einer Handvoll anderer in Decken eingemümmelter Patienten auf der Terrasse der Klinik saß und die widerliche Plörre schlürfte, nickte aufmunternd zu Plotek herüber. Es war eine mollige Frau in seinem Alter. Man hätte a uch sagen können: ein barockes Erscheinungsbild in einem pastellfarbenen Jogginganzug. Ihr Gesicht passte nicht richtig zum unförmigen Körper und wirkte nachgerade jugendlich schön. Bergseeblaue Augen, eine kleine, freche Stupsnase und ein Mund, der wie gezeichnet wirkte. Doch, doch, das Gesicht der Frau war schön. Sehr schön sogar. Was nicht hieß, dass der Rest unschön war, aber irgendwie in allem viel zu viel.
»Die ersten zwei Tage glaubt man noch, das Zeug kommt einem gleich wieder hoch. Aber nach einer Woche wird man süchtig danach.« Sie lächelte indifferent. Plotek war unklar, ob sie das scherzhaft oder doch ernst meinte.
»Zwölf Kilo!« Die Frau sagte es nicht ohne Stolz in der Stimme und strahlte dabei. Die gut durchbluteten Wangen glänzten. Mit einer geschmeidigen Bewegung strich ihre Hand am Körper entlang. Jetzt wirkte das Gesicht noch schöner. Wäre der Vergleich mit einem Sonnenaufgang an einem Sommertag nicht zu abgedroschen gewesen, wäre Plotek beim Blick in das Gesicht der Frau genau dieser Vergleich eingefallen.
»In zwölf Tagen!«
Macht ein Kilo pro Tag, dachte Plotek. Wenn sie noch achtzig Tage hier ist, hat sie sich aufgelöst. Von der Plörre w eggeschwemmt, atomisiert, verschwunden. Er konnte sic h ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die Frau lächelte auch, dabei kuschelten sich zwei leichte Rotschimmer auf ihre Wangen und wirkten wie samtene Pfoten.
»Marlies.« Sie streckte ihre Hand Plotek entgegen. Und Überraschung: Die Hand war ebenso zart wie das Gesicht, die Finger waren feingliedrig und passten genauso wenig zum übrigen Körper.
Womöglich hat die Fastenkur erst an Händen und Gesicht angeschlagen, dachte Plotek.
»Plotek.«
Er griff nach der zarten Hand und drückte sie vorsichtig, als wäre sie verletzlich wie ein flauschiges Küken. Marlies hingegen packte kräftig zu. Plotek musste an eine Saftpresse denken und fragte sich, ob Marlies den achtzig Kilo ihres Körpers Ausdruck verleihen wollte. Vor Schmerzen verzog er kurz das Gesicht. Noch ehe sich die beiden weiter annähern konnten, kam eine der ganz in Weiß gekleideten Therapeutinnen gut gelaunt und eine Spur zu übermotiviert auf die Terrasse. Sie forderte alle Patienten auf, ihr zu folgen, um der ersten Therapieeinheit »als Einstieg in den Tag«, wie sie das nannte, »zu begegnen«.
Kurze Zeit später fand sich Plotek auf einer dünnen Matte stehend wieder und kam sich wie ein unter Narkotika gesetzter Boxer beim Zeitlupeboxen vor. Qigong nannte sich das, was Plotek da gerade machte. Oder besser: versuchte zu machen. Bei diesem verlangsamten Boxen ging es offenbar darum, die Vielzahl der Gedanken, die einem dauernd im Kopf herumspukten, durch nur einen Gedanken zu ersetzen.
»Qigong ist nichts anderes als das Verwenden des bewussten Geistes, um die Wirkung des bewussten Geistes auf den ursprünglichen Geist zu vermindern«, sagte die Qigong-Expertin zum allgemeinen Verständnis. Aber denkste. Das allgemeine Verständnis war nicht so allgemein, dass Plotek daran teilhaben durfte. Soll heißen: Er stand auf der Matte wie auf dem viel zitierten Schlauch. Damit die Gedankenreduktion funktionierte, gab es bestimmte körperliche Maßnahmen und Methoden. Die Übung, an der sich Plotek momentan abarbeitete, hieß Verbindung von Himmel und Erde bekommen . Von bekommen konnte bei Plotek keine Rede sein. Wobei die Verbindung zur Erde durchaus möglich schien. Zum Himmel keineswegs. Und die Verbindung zwischen beiden wollte Plotek erst recht nicht gelingen. Ob es jetzt der mangelnde Gleichgewichtssinn war, das fehlende Frühstück, die widerliche Plörre im Magen
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